Der genarrte Homo ludens

Nicht erst seit Schiller wird der Mensch tief vereint mit seinem Spieltrieb betrachtet. Doch was nutzt ihm das? Er stirbt immer als Verlierer seines Lebens. Ein flüchtiger, literarischer Blick ins Regelwerk und auf den durchschnittlichen Pöppel.

von Michael Helming, 22.03.2014, 17:09 Uhr (Zwote Dekade, 1/2)

Bei Albert Caraco, genauer: in dessen „Brevier des Chaos“ findet sich der Vorwurf: „Unsere Intellektuellen können nur spielen und unsere Geistlichen nur lügen…“ Gilt die Lüge ohnehin als Teufelskind, obwohl sie nur selten bestraft wird – ja, in vielen Fällen nicht einmal strafbar ist – so genießt auch das ach so harmlose Spiel keinen guten Ruf, zumindest dann nicht, wenn der soziale Rang des Spielers eigentlich zur Ernsthaftigkeit gemahnt: Wissenschaftlern, Politikern und offiziellen Würdenträgern steht eher nicht jene kopflose Freiheit zu, mit der ungebärdige Kinder einem Ball oder Reifen nachlaufen. Derweil die Sache selbst also durchaus Unterschiede in der Akzeptanz kennt, spricht der Deutsche nur ganz allgemein vom Spieler, wo beispielsweise die englische Sprache den „player“ vom „gambler“ scheidet.

Für sich ist das Spiel eigentlich nichts Schlechtes. Entdeckt der Mensch seine Talente, entwickelt er seine Fähigkeiten nicht auch und vor allem spielerisch? Die Welt der Erwachsenen lernen kleine Kinder kennen, indem sie in altbewährten Klassikern wie „Kaufmannsladen“ oder „Vater, Mutter, Kind“ agieren. Auch in der Schule wird heutzutage gern spielerisch gelernt und sogar Manager entwickeln Kompetenzen und Strategien mitunter in ausgebufften Plan- und Rollenspielen. Im Internet, nicht zuletzt, stehen uns unzählige komplette Universen zum Spielen – allein oder mit anderen – zur Verfügung.

Der Mensch erforscht und fördert seine Begabungen also vor allem über das Spiel? Fraglos dürfte Spielen eine elementare menschliche Aktivität darstellen, die Kreativität, Können und Energie freisetzt; ein universeller Kick für Phantasie und Tatkraft. Damit beinhaltet die Spielsituation – immer eine mehr oder weniger verfremdete Simulation von Realität – nach gängiger Auffassung das Potential, verfestigte Strukturen zu durchbrechen und Innovation hervorzubringen. Das Spiel scheint eine Betätigung zu sein, die Elemente einer Situation derart verändern kann, dass Neues und Unbekanntes entsteht und Lösungen für mitunter auf anderem Wege nicht lösbare Probleme jäh offenbar werden. Friedrich von Schiller hatte weder Kinder- noch Kunstspiele im Sinn, ebenso wenig das Theater allein, mehr eine freie und zivilisierte Gesellschaft, als er 1795 in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen schrieb: „der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“

Herbert Marcuse geht hier im zwanzigsten Jahrhundert zwar mit Schiller d’accord, doch was nutzt das? Der eifrige Kapitalismus hat die westliche Gesellschaft längst bei den Eiern. Einzig Effizienz zählt und Spielgeld ist im wirklichen Leben wertlos. Ohnehin wird früher oder später aus jedem Spiel „heiliger Ernst“, nämlich spätestens dann, wenn sich die Regeln erstmal so richtig „eingespielt“ haben. Von da an sind sie nicht mehr ohne Weiteres zu ändern und nehmen ihrerseits Zwangscharakter an. Wahrhaft und längerfristig glücklich hat das Spiel ohnehin seit Menschengedenken niemanden gemacht. Schon Aristoteles stellt im zehnten Buch der Nikomachischen Ethik klar, dass das Glück nicht in Verspieltheit besteht: „Es wäre ja auch unverständlich, dass das Endziel ein Spiel und das ganze Leben ein Arbeiten und Ertragen von Härten sein soll – um des Spieles willen. Wir wählen doch, kurz gesagt, alles und jedes Mittel zum Zweck, nur nicht das Glück, denn das Glück ist das Endziel. Ernste Tätigkeit und Mühe um des Spieles willen erscheint töricht und überaus kindlich. Dagegen ‚spielen um des Ernstes fähig zu sein‘ – dieser Spruch des Anacharsis [Einer der Sieben Weisen, der laut Herodot im 6. Jh. v. Chr. Griechenland bereiste.] darf als richtig gelten. Denn das Spiel ist soviel wie Erholung, Erholung aber braucht der Mensch, weil er außerstande ist, ohne Unterbrechung zu arbeiten.“

Tatsächlich wird heutzutage mehr zur Zerstreuung und Unterhaltung gespielt als zum Lernen. Manche Smartphone-Besitzer spielen immer und überall: bei der Arbeit, im öffentlichen Nahverkehr, allein, in Gesellschaft, ja selbst während des Gesprächs mit anderen, was mitunter unhöflich auf Mitmenschen wirkt, die sich noch des prämobiltelephonischen Zeitalters erinnern können.

Photo: Michael Helming

(Photo: Michael Helming)

Kindisch das Spiel, erwachsen der Ernst? Im Grunde ist auch das wiederum nur so ein Dualismus, der beweisen soll, es ginge im Spiel um nichts und im wahren Leben dagegen um etwas, vielleicht sogar um etwas sehr Wichtiges. In Wirklichkeit sind Spiel und Ernst gleichsam Konstrukte, vermeintliche Gegensätze, zwei Seiten einer gedachten Medaille. Dem Skeptiker erscheint naturgemäß ein jeder Dualismus suspekt, ist er doch lediglich ein (Wort)Spiel: Man wähle links oder rechts, Kopf oder Zahl, gerade oder ungerade – auf ihrer vermeintlich höchsten und heiligsten Stufe kleidet sich diese Taschenspielerei als Zufall oder Schicksal – Eskamotage als Ergebnis unseres lächerlichen Drangs, die Welt zu ordnen. Dass der Mensch als Spielfigur seines Selbst – als Pöppel, der mit Schopenhauer tun kann, was er will, jedoch eben noch lange nicht wollen kann, was er will – dabei letztendlich immer verliert, liegt auf der Hand. All unsere Taten sind belanglose Spielzüge zum Tode; auf einem begrenzten Spielfeld, nach nicht immer klaren Regeln. Trotzdem wollen wir mitspielen! (Nur Fatalisten und Nihilisten behaupten, es sei das beste Spiel, nicht zu spielen.)

Kaum verwunderlich daher, dass die Weltliteratur als Spie(ge)l unserer Welt viele jener ultimativen, vom Willen erfüllte Verlierer kennt; unter ihnen Thomas Buddenbrook, der ein Leben lang ackert und gesellschaftliches Gedaddel über sich ergehen lässt, mit dem Ziel, Familie, Firma und Vermögen zusammenzuhalten, nur um schließlich mit 48 Lenzen von einem simplen Gammelzahn aus der Partie des Lebens geworfen zu werden. Blödes Spiel! Auch John Baxter, Protagonist aus „Don’t Look Now“ von Daphne du Maurier muss sich nach diversen Verwirr- und Wahrnehmungsspielchen im Labyrinth von Venedig banal von einem Gnom abstechen lassen, was ihm folgende letzte Worte entlockt: „What a bloody silly way to die.“

Die vielleicht eindrucksvollste und universellste dieser unweigerlich verlierenden Spielerfiguren hat Jorge Luis Borges mit einer seiner bekanntesten Erzählungen erschaffen; primär ein Kurzkrimi, ist „Der Tod und der Kompass“ aus dem Jahr 1942 auch eine Parabel auf das Scheitern des ewigen Spielers Mensch.

Privatdetektiv Erik Lönnrot ist mit der Aufklärung einer eigenartigen Mordserie befasst. Da es sich, wie schon erwähnt, um eine Kriminalgeschichte handelt, liegt das Augenmerk der meisten Rezipienten auf der Tatsache, dass Lönnrot „sich für einen reinen Logiker, für einen Auguste Dupin“ hält. Meines Wissens nach bekennt lediglich John Sturrock 1977: „In ‚La muerte y la brújula‘ the gambling theme is important.“ Sonst liegt der Fokus stets auf dem brillanten Detektiv und Denker, der nicht nur mit Dupin, sondern auch mit Father Brown oder Sherlock Holmes verglichen wird; ein Vergleich, der etwas hinkt, wie wir noch sehen werden.

[…]


Lichtwolf Nr. 45

Weiterlesen?

Diesen und weitere Beiträge finden Sie in Lichtwolf Nr. 45 (Titelthema: „Spielchen“) – erhältlich hier im Einkaufszentrum.

Schreiben Sie einen Kommentar