Vom virtuellen Gewicht der bürgerlichen Pflicht

Was wiegt die Pflicht in einer vom Egoismus regierten Welt? Falls der Pflichtbegriff leer ist, ohne Masse, ohne echten Gehalt, müssten wir uns dann nicht sogar zum radikalen Egoismus bekennen? Eine Spurensuche bei Mauthner, Fichte und Stirner

von Michael Helming, 21.09.2013, 15:18 Uhr (Zwote Dekade, 1/2)

Was kennt die bürgerliche Gesellschaft nicht alles an Pflichten. Ein dualistisches Pendant zu unseren Rechten und notwendiges, moralisch betriebenes Vehikel der Freiheit, nicht mehr und nicht weniger sollen wir auch heute noch in diesem Topos erblicken. Zwar ist die Wehrpflicht ausgesetzt, doch wir unterliegen weiterhin der Gebühren- und Steuerpflicht, manche der Unterhaltspflicht; einige von uns dürfen sich zudem als Schöffe, Wahlhelfer, Vormund, im Feuer- oder Katastrophenschutz bewähren. Stehen wir als Zeugen vor Gericht, unterliegen wir der Wahrheitspflicht. Zeugen sind für die Wahrheitsfindung häufig nutzlos, doch die Justiz hat ja leider nichts Besseres. Wie alternativlos das schon klingt! Haben wir nicht oft genug nur diffuse Vorstellungen von all unseren Pflichten? Üben wir Gehorsam nicht häufig unbewusst, einfach aus Gewohnheit und Bequemlichkeit, ohne rechtfertigende Gründe zu hinterfragen? Keinesfalls allein der Staat, auch Personen, Vereine und Firmen nähren unser Pflichtbewusstsein. So gehört zur öffentlichen Ruhe in einer Konsumgesellschaft eben auch der Konsum. Ohne Einkaufen bräche das System zusammen; Chaos und Unfrieden wäre der Boden bereitet. Auch deshalb nehmen uns Industrie und Handel immer wieder liebevoll in die Pflicht, manche von uns gleich doppelt, nicht nur als Konsumenten, sondern ebenso als Produzenten, als Arbeitnehmer. Wir erzeugen und verbrauchen. Einer von vielen Kreisläufen, in denen der pflichtbewusste Bürger zu jenem Perpetuum Mobile wird, dessen Erfindung bislang als unmöglich galt.

Photo: Michael Helming

(Photo: Michael Helming)

Mit Fritz Mauthner und seinem „Wörterbuch der Philosophie“ gehört das Wort Pflicht – welches er als eins der wunderlichsten im Deutschen empfindet – neben solchen wie Gebot, Moralgesetz oder dem kategorischen Imperativ zur begrifflichen Sippe des Sollens. Dem Sollen widmet er einen längeren Eintrag, wobei er zur etymologischen Sippe – dies nur nebenbei – auch die Schuld zählt: „Sollen gehört vom Hause aus der Theologie, bedeutet eine Verpflichtung oder Verschuldung des Menschen gegen Gott.“ Das Sollen kommt der Form nach als Optativ, Imperativ oder Futurum daher. Mauthner schreibt: „Das Futurum spricht von Vorgängen, die man erwartet. Hat man ein Recht dazu [oder einfach die Macht!, MH], sie zu erwarten, so befiehlt man sie. So sind die Handlungen, die diese Vorgänge herbeiführen, eine Pflicht dessen, der zu gehorchen hat.“ Pflicht ist demnach primitivster Zwang und müsste daher, streng genommen, dem autonomen Individuum den Weg des Ungehorsams immer offen halten. Auch Mauthner sagt: „Das starre Wort Pflicht hängt also sprachlich mit einem ungewissen Futurum zusammen.“ Die Erwartung wird nicht notwendigerweise erfüllt. Mittels sprachlicher Überhöhung und moralischem Zauber wird die Erfüllungsquote auf hohem Niveau gehalten. Wie euphemistisch mutet da die Herleitung des Pflichtbegriffes von pflegen an. In Wirklichkeit soll gar nicht liebevoll gepflegt, sondern einfach gekuscht werden. Pflicht sei – so ebenfalls Mauthner, der sich an anderer Stelle, nämlich in seinem Eintrag über Bacons Gespensterlehre, ausdrücklich als Nachkömmling Stirners bezeichnet – ein christlicher Begriff, aber so verchristlicht sei die Welt auch „unter der Führerschaft atheistischer Denker geblieben, daß die Moral oder die Wertlehre vom menschlichen Handeln ohne den Begriff des Sollens nicht glaubt auskommen zu können.“ Ein perfider Trick: Der herrschende Gott wird abgesetzt, später auch der Adel, doch die alten Begriffe existieren weiter und die Pflicht bleibt ein probates Machtmittel. Eine Idee, die schon Max Stirner in seinem Hauptwerk „Der Einzige und sein Eigentum“ äußert: „Die Revolution war nicht gegen das Bestehende gerichtet, sondern gegen dieses Bestehende, gegen einen bestimmten Bestand. Sie schaffte diesen Herrscher ab, nicht den Herrscher, im Gegenteil wurden die Franzosen aufs unerbittlichste beherrscht.“ Es wird wohl immer Herrscher geben, denn einer oder einige wenige müssen ja in einem hierarchischen System ganz oben stehen. Immer werden sie mehr oder weniger offen Pflichten verkünden, um ihre Herrschaft zu sichern. Folglich sollten sie schon aus Prinzip mit Widerstand bedacht werden, da sie früher oder später alle zur Unterdrückung und Ausbeutung dienen.

Über den privat vermutlich eher introvertierten Johann Caspar Schmidt – der Künstlername Max Stirner soll auf Kommilitonen zurückgehen, die ihm das besondere Kennzeichen einer sehr hohen Stirn attestierten – hat Fritz Mauthner sich folgendermaßen geäußert: „Man hat Stirner auf Fichte zurückzuführen versucht; ich kenne keine gröbere Verirrung der philologischen Methode. Vielleicht hat sich Stirner von einigen Schlagworten oder Stichworten Fichtes wirklich beeindrucken lassen; mag sein. Aber es gibt keine Brücke zwischen Stirners individuellem, einzigem Ich, das sich seine Welt aufbaut; und Fichtes absolutem Ich; das sich selbst und die Welt setzt. Es geht wirklich nicht an, den Fanatiker der Anarchie und den Fanatiker der Pflicht auf die gleiche Formel zu bringen, weil sie beide vom groß geschriebenen Ich ausgehen.“ Besagte Rückführungsversuche dürften ihren Ursprung nicht zuletzt in Fichtes libertärem Ausspruch finden, der Staat habe die Aufgabe, sich selbst überflüssig zu machen. […]


Lichtwolf Nr. 43

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