Keine Türen öffneten sich leise. Alles schlief.

Lebende & Leichen Spezial: Es gibt eine Werkausgabe, Hörbücher, Biographie, seine Texte liegen inzwischen teilweise auf Italienisch, Schwedisch oder Englisch vor. Doch während täglich Hunderte zu Kafka pilgern, verfällt das Grab von Hermann Ungar (1893-1929) auf der anderen Seite der Moldau.

von Michael Helming, 07.04.2012, 23:14 Uhr (Neues Zeitalter)

Der Zug aus Brno rollt in den Hauptbahnhof von Prag ein. Vor gut drei Stunden bin ich in Skalice nad Svitavo zugestiegen, einen Steinwurf von Boskovice entfernt, wo Ungar als Sohn eines jüdischen Spirituosenfabrikanten zur Welt kam. In seinem Geburtshaus findet man heute einen Juwelier und einen Fischladen; an der Fassade zudem eine Gedenktafel für den ehedem recht bekannten Bewohner. Die winzige Buchhandlung nebenan trägt seinen Namen und selbstredend kann man Ungars Werke dort erstehen, in tschechischer Übersetzung. Bücher auf Deutsch, der Sprache, in der er sich literarisch ausdrückte (Im Alltag sprach der spätere Mitarbeiter des Prager Außenministeriums natürlich genauso Tschechisch.), sucht man in einem südmährischen Städtchen mit zehntausend Seelen vergebens. Nachdem ich in Boskovice den dreihundert Jahre alten Friedhof und die Synagoge besucht habe – letztere wird zur Zeit saniert und soll irgendwann 2012 wieder zugänglich sein – möchte ich, um mein Hermann-Ungar-Bild abzurunden, in der Hauptstadt ein aktuelles Photo seiner Grabstelle auf dem jüdischen Friedhof Malvazinky knipsen. Schließlich ist der Grabstein eines Schriftstellers so etwas wie das Ausrufezeichen hinter seinem letzten Satz, der sichtbare Beweis für den Abschluss von etwas, was schlicht Werk, oder im trügerischen Willen zur Vollständigkeit gar Gesamtwerk genannt wird.

Es ist wenig, was hier Gesamtwerk heißt. Zum einen verstarb der Autor jung, zum anderen dürften die Turbulenzen des 20. Jahrhunderts, inklusive Shoah, Krieg und Kommunismus, manches zerstreut und vernichtet haben. Dieses Gesamtwerk besteht aus zu Lebzeiten publiziertem Material sowie aus einer Handvoll Briefen und Tagebucheinträgen. Neben kaum einem Dutzend kürzerer Prosarbeiten sind das drei Theaterstücke – besonders die kurz nach Ungars Ableben uraufgeführte Komödie „Die Gartenlaube“ (1929) feierte Erfolge – dann das vielgelobte Debüt, der Erzählband „Knaben und Mörder“ (1920), des Weiteren drei längere Texte, von denen mir der Roman „Die Klasse“ (1927) stets zu viel und „Die Ermordung des Hauptmanns Hanika“ (1925) zu wenig erwähnt wird; auf „Die Verstümmelten“ (1923) komme ich noch zurück, zunächst will ich ja ein Photo machen, eine herbstliche Momentaufnahme. Die Grabstelle eines Autors ist ein letztes greifbares Indiz für seine faktische Existenz, für den Menschen hinter dem Text; eine begehbare, aber verschlüsselte Biographie. Wie umfangreich sie auch sein mag, wir lesen vor Ort lediglich den letzten Absatz.

Das Grab von Hermann Ungar

Die Ordnung hier muss irgendwie anders funktionieren. Ich suche nach einem Lageplan, doch hier gibt es nichts, nicht einmal eine Stelle, wo etwas gewesen sein könnte. (Photo: Michael Helming, vor Ort)

Mein Ausgangspunkt war eine schwarzweiße Abbildung, vermutlich in den Achtzigerjahren entstanden und in der Hermann-Ungar-Biographie von Dieter Sudhoff enthalten. Zu sehen ist darauf eine von Efeu umrankte, flach liegende Grabplatte, lediglich mit Namen, Geburts- und Sterbedatum versehen. Begleitend macht Sudhoff folgende Angaben: Grab 103, Abteilung 21, Reihe 7. Klingt nach einem netten Spaziergang, denn Malvazinky, in Smíchov, im 5. Bezirk gelegen, gehört zu den größeren Friedhöfen der Stadt, zweifellos auch zu den inspirierenderen; so erwähnt Rilke ihn gleich in der ersten Zeile seines Gedichts „Der Engel“. Mich verwundert derweil nur mein Stadtplan, der Malvazinky ausschließlich als christlichen Totenacker führt, doch lasse ich mich davon nicht beirren, nehme die Metro bis zur Haltestelle Radlická und steige durch Grünanlagen und ein Wohngebiet den Hügel empor. Das Haupttor ist schnell gefunden, nur stoße ich dahinter tatsächlich einzig auf christliche Grabanlagen. Ich durchquere das weitläufige Areal bis in den hintersten Winkel und als ich an einer Stelle über die Mauer schaue, entdecke ich dahinter weitere Monumente, erkenne auch aus dieser Entfernung auf einem Stein bereits das Symbol der segnenden Hände, ein sicheres Zeichen, dort einen Kohen bestattet zu finden. Ich bin also auf der richtigen Spur, suche nun nach einem Zugang und verlasse zu diesem Zweck den christlichen Friedhof durch eine schmale Pforte, gehe dann eine etwas breitere Zufahrt hinter einem modernen, ebenfalls christlichen Kirchenbau entlang, wo ein älterer Mann mit einer Art Schneeschieber Laub zusammenkehrt. Bald stehe ich vor einem schmucklosen Gittertor, an dem sich ein Briefkasten befindet. Ich drücke die Klinke herunter und stehe unmittelbar am Fuß eines überschaubaren, leicht ansteigenden Friedhofshügels. Er gliedert sich in zwei Gräberfelder rechts des Tores, getrennt durch einen breiten Hauptweg. Ich gehe ein paar Schritte an der Mauer zu meiner Linken entlang und trete dann in eine Reihe. Dort ist manche Mazewa umgestürzt. Efeu, Unkraut und Sträucher wuchern wild. Braun und gelb türmt sich totes Blattwerk an einigen Stellen kniehoch auf, und Bäume, deren Stämme ihren Durchmesser mit der Zeit vergrößert haben, schmälern den Zugang zu den Reihen. Zwischen zwei Gräbern verwest der ausgestreckte Kadaver einer schwarzen Katze. In oxidierten Vasen und Metallschalen, wie sie an manchen Grabstellen stehen, ist der Efeu im Wasser eingefroren. Dieser Ort ist offensichtlich nicht nur bitterkalt, sondern auch sonst in keinem einladenden Zustand. Wie soll man da überhaupt ein Grab finden? An den Abzweigungen der Wege zu beiden Seiten steckt jeweils ein Schild im Boden, meistens jedenfalls. Die dünnen Bleche sind allesamt verrostet, manche zu Fetzen durchgegammelt; erkennen kann man darauf nichts mehr. Ebenso steht es um die kleinen Metallschilder auf den Gräbern, wo sie denn überhaupt noch vorhanden sind. Die Oberflächen mancher Grabmäler verwitterten mit den Jahren zu einer glatten Fläche. Kein Zeichen ist da mehr zu entziffern, geschweige denn ein Name. Andere Steine sind leicht in den Boden eingesunken, wie mitten in einer Bewegung erstarrt, beinahe so, als tauchten sie in einer unglaublich langsamen Zeitlupe ein in einen Ozean aus Erde. Hermann Ungar erzählt in seinem Roman „Die Verstümmelten“ vom eintönigen Alltag des Bankangestellten Franz Polzer, schreibt dabei von „Tätigkeiten, die seine Zeit zerlegten.“ Mir ist, als würde auch hier, wenn auch auf ganz andere Art, Zeit zerlegt. Ich versuche, meine Aufmerksamkeit nicht durch aufrechte Steine abzulenken zu lassen, forsche nach horizontalen Grabplatten. Von denen gibt es relativ wenige und entweder sind sie komplett überwuchert oder die metallenen Buchstaben und Zahlen sind abgebrochen; lediglich kleine Rostpunkte künden von einstigen Verankerungen. Wenn ich weiterkommen will, muss ich Reihe 7 finden. Ich zähle also vom Eingang aus sieben Wege ab und nachdem ich in der betreffenden Reihe nicht fündig werde, probiere ich das gleiche Spiel von der entgegengesetzten Richtung aus, vom oberen Teil des Hügels, wo sich tatsächlich der Durchgang zu einem Wohnhaus befindet, was den Briefkasten am Friedhofstor erklärt. Gleichwohl scheint der kleine Bungalow einem Grab in seiner Einsamkeit und Totenstille nicht unähnlich. Mir fällt auf, ich höre keinen einzigen Vogel, dafür gleich zwei bellende Hunde. Wie ich erwartet hatte, scheitert meine Zählaktion auch in Gegenrichtung. Welchen Grund könnte es auch geben, mit der Reihenfolge nicht beim Eingang zu beginnen. Die Ordnung hier muss irgendwie anders funktionieren. Ich brauche einen neuen Anhaltspunkt, eine Idee; suche beim Tor nach einem Lageplan, wie er sonst auf jeder Begräbnisstätte existiert, doch hier gibt es nichts, nicht einmal eine Stelle, wo etwas gewesen sein könnte. Der Mann kehrt immer noch das Laub auf der Zufahrt, obwohl die Wege auf dem Friedhof es nötiger hätten. Ich spreche ihn auf Englisch und Deutsch an, er hingegen spricht Tschechisch, gibt mir jedoch durch Gestik und Mimik zu verstehen, sein Zuständigkeitsbereich endet am Tor. So komme ich auch nicht weiter.

Vorhin, am Hauptzugang dieses riesigen Geländes, habe ich eine Art Verwaltungsgebäude gesehen, einen länglichen, einstöckigen Bau; rechts und links der Tür zahlreiche Anschläge und Hinweise, selbstredend in tschechischer Sprache. Ich schaue mal rein. Drinnen sieht es aus wie in einer Bank. Zwei Damen hinter Glas. Eine im Gespräch mit einem eher jungen Klienten. Ich versuche, bei der anderen mein Anliegen vorzubringen, scheitere jedoch einmal mehr am Tschechischen. Glücklicherweise unterbricht aber jener Herr, der um einiges jünger als ich zu sein scheint, sein Gespräch; er offenbart seine Englischkenntnisse, indem er zu dolmetschen beginnt. Am Ende kann ich mich zwar für seine Hilfe bedanken, habe jedoch lediglich erfahren, die Damen hier wissen nur über christliche Leichen Bescheid. Was auf der anderen Seite der Mauer läuft, geht sie nichts an. Da muss ich schon bei den Juden fragen. Folglich begebe ich mich zur Synagoge in Smíchov, unweit der Metro-Station Andel. Ungar hat in diesem Viertel einige Zeit bis zu seinem Tod gelebt. Die Synagoge ist zwar, so gesehen, raus aus dem aktiven Religionsgeschäft – in den Räumlichkeiten befindet sich ein Buchladen – indes birgt ein Nebeneingang noch eine Filiale des Jüdischen Museums, angeblich mit kleinem Archiv und Lesesaal. Am heutigen Freitag ist der jedoch nicht zugänglich und mit meinen Fragen, so erfahre ich von einem Mitarbeiter, müsse ich mich eh an die Hauptstelle wenden. Ich überquere also die Moldau, um ins jüdische Viertel zu gelangen, schlage dort zunächst in der Alten Synagoge auf, wo die Touristen sogar Ende November aus allen Winkeln quillen wie die Sahne aus einem Windbeutel. Dankenswerterweise leitet man mich dort jedoch umgehend zur Spanischen Synagoge um, wo mir am Touristeneingang empfohlen wird, doch mal in Smíchov vorbeizuschauen. Als ich erkläre, da käme ich gerade her, schickt man mich am Café vorbei um den Block zu einem Seiteneingang, wo sich das Archiv des Jüdischen Museums befindet. Der Pförtner ist über mein Kommen bereits informiert, bittet mich, einen Moment zu warten, dann eskortiert er mich durch eine Tür, wenige Meter einen Gang hinunter, bis wir rechts durch eine weitere Tür in einen kleinen Lesesaal kommen. Dort nimmt mich ein junger, ausgezeichnet Englisch sprechender Mitarbeiter in Empfang, der, während ich mein Problem schildere, schon nach einem Buch greift, es jedoch bald ins Regal zurückstellt.

Es gibt viele blinde Flecken auf der Netzhaut menschlicher Erinnerung – Malvazinky scheint ein solcher für die Jüdische Gemeinde zu sein. Wir tauschen E-Mail-Adressen aus. Wie ich erfahre, gibt es einen Spezialisten für jüdische Friedhöfe in Prag, der jedoch leider an diesem Tag nicht im Hause ist. Doch kann ich ihm eine Mail schicken und bis Montag will man mir alle hier vorhandenen Informationen über den Friedhof zusammenstellen. Vielleicht kann man sogar einen Lageplan auftreiben, denke ich. Das würde mir helfen. Im Gegenzug interessiert man sich auch für meine Quellen. Das Buch von Dieter Sudhoff hat man offensichtlich nicht im Bestand. Ich erzähle, was ich weiß und möchte dann selbst noch wissen, in welchem Jahr die Gemeinde den Friedhof aufgegeben hat, doch da herrscht Ungewissheit: Möglicherweise vor dem Krieg. Während des Krieges? Oder kurz danach? Ich verspreche, am Montag wiederzukommen.

[…]


Lichtwolf Nr. 38

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