Das ist die Wahrheit: Konsens, Kuchen und Kaffee

Wer öfter umzieht, der braucht immer mal irgendwo Platz, um seine Habe zwischenzulagern. Bei unterkühltem Kontakt zu den Eltern bietet diesen eine stets hilfsbereite Oma. Sie hat einen großen Dachboden, ein gutes Herz sowie ihre ganz eigene Philosophie.

von Filbinger, 20.03.2012, 15:14 Uhr (Neues Zeitalter)

 

Diesseits der Bodentreppe ist noch fast alles so wie damals, als ich mit meiner Schwester hier oben gespielt habe. Es gibt eine alte Polstergarnitur, mit Bettlaken abgedeckt, manch mannshohen Kartonstapel, verstaubtes Spielzeug aus Holz und Metall – hat einst meinem Vater oder meinem Onkel gehört – ein plattes Gummiboot, Gartenmöbel, Lampenschirme, Weihnachtsbaumschmuck, Zeitschriften und Zeitungen, die alte Rundfunktruhe aus der Adenauer-Ära, einen Schrank voller Klamotten, die mal zu gut waren für die Altkleider, inzwischen aber trotz Gegenmaßnahmen zu Mottenfutter verkommen sind; und dort drüben, gleich neben dem Schornstein, da ist mein Stauraum, die Ecke für mein Zeug, seit ich das Studium geschmissen habe, wobei ich meinem Vater diese nicht ganz unwichtige Entscheidung erst kapp acht Monate nach meiner Exmatrikulation beichtete. Bis dahin hatte er regelmäßig, ahnungslos und pünktlich Geld überwiesen, eine schöne Zeit, doch das ist eine andere Geschichte.

„Bub, musst du denn wirklich schon wieder umziehen?“ fragt Oma und sie mahnt zur Eile, der Kaffee sei gleich durchgelaufen. Ich werde mich dies Frühjahr verändern, von zwanzig eigenen Quadratmetern in der Provinz geht es mal wieder in die Großstadt, in ein WG-Zimmer von kaum drei mal vier Metern. Diverse Dinge muss ich daher zwischenlagern, bis ich mir wieder mehr Raum erlauben kann; nicht nur Küchenutensilien, auch Bücher und meinen Flohmarkt-Schaukelstuhl, von dem ich mich nie trennen werde. Ihn habe ich in den letzten vier Jahren bereits zweimal auf Omas Speicher geschafft und dreimal wieder dort abgeholt. Jetzt muss es halt von neuem sein. Wäre er ein Pferd, würde er inzwischen allein hinauffinden, sagt Oma. Sie hat genug Platz und viel Verständnis für meine Lage, obwohl sie mich natürlich nicht wirklich verstehen kann. Prekariat hat es zu ihrer Zeit nicht gegeben und kommt im Gespräch mit meinen Vater das Thema auf mich, dann fragt sie immer: „Was ist da nur los? Der Bub ist doch nicht dumm.“ Worauf mein Vater sich in düster grollendes Schweigen hüllt. Oma kennt natürlich die ganze Geschichte. Sie habe ich nie um Geld angepumpt. Jedes Jahr zu Weihnachten und zum Geburtstag unterstützt sie mich, seit ich lebe, mit je einhundert, früher DM, heute Euro. Ansonsten kann ich mein Zeug und meine Seele bei ihr unterstellen. Das ist Gold wert.

Streuselkuchen

Um die Kaution für seine neue Unterkunft zahlen zu können, musste der Autor sein Smartphone verkaufen. Drum konnte er den Kuchen nicht selbst knipsen und drum Photo: Wikipedia, Oliver s., Mai 2005, cc-by-sa 3.0

Ich rücke meine Kartons etwas zusammen, überlege dabei, ob ich aus dem ganzen Kram, der in der letzten halben Dekade auf diesem Haufen gelandet ist, noch etwas für meine neue Bleibe brauchen kann. Dabei schweift mein Blick ab und fällt in einen entfernten Winkel des Dachbodens, auf das schiefe Regal, in dem uralte Bücher ihre Metamorphose zu Staub zelebrieren. Der Zerfall nahm offensichtlich lange vor meiner Geburt seinen Anfang. Inzwischen sind Titel und Autoren auf den Rücken nicht mehr zu entziffern. Meine Schwester und ich haben zuweilen im einen oder anderen geblättert. Für uns waren das Zauberbücher, magische Gegenstände. Warum? Vielleicht aus Respekt vor ihrem Alter. Die Neugier, etwas anzufassen, was unvorstellbar viel länger existiert als man selbst. Keine rein kindliche Neugier, wie mir jetzt auffällt und ich könnte mir sogar vorstellen, hier und da mal reinzulesen. Oma ruft. Der Kaffee steht auf dem Tisch. Wahllos greife ich zu, ziehe einen Band heraus und nehme ihn mit hinunter ins Esszimmer.

 

„Bub, was hast du denn da? – Nicht auf die Tischdecke! – Ist doch staubig.“ Sie füllt die zierlichen Porzellantassen. Manchmal zittern ihre Hände dabei etwas, trotzdem geht nichts daneben und feine, braune Bläschen trudeln nach dem Einschenken noch eine ganze Weile über den tiefschwarzen, duftend dampfenden Spiegel in meiner Tasse. Es ist beinahe wie in einem Werbespot. Nur das Buch passt nicht ins Set. Es ist tatsächlich auffallend staubig. Ich lese: „Teubners Deutsches Unterrichtswerk, Abteilung: Erziehung durch das Schrifttum, Deutsches Lesebuch für höhere Lehranstalten, Ausgabe A für Jungen, Vierter Teil für Klasse 4, 1939.“ Oma weiß sogleich bescheid: „Das ist ein Schulbuch von deinem Opa.“ Dafür scheint es gut erhalten: Keine Eselsohren. Keine Kritzeleien, Zeichnungen oder Notizen, nicht einmal Unterstreichungen. Wenn ich dagegen bedenke, wie fertig meine Schulbücher ausgesehen haben. Vorsichtig blättere ich weiter. Die Seiten selbst sind nicht vergilbt, der Inhalt dafür um so mehr: „Ein Volk – Ein Reich“ oder „Durch Kampf zur Freiheit“ lauten die Kapitelüberschriften. Ich habe ja schon über Kleist und Hölderlin geklagt, aber der Stoff hier stinkt wirklich zum Himmel: Ein Karl Springenschmid schreibt von deutschen Heldentaten an der Dolomitenfront im Jahr 1915. Ein Gedicht mit dem Titel „Österreich“ bringt die Zeile: „Dem Führer verschworen / zu Opfer und Tat, / wir sind seine jungen / Soldaten“. Ich lese laut und kopfschüttelnd. Oma nickt verständig: „Ja, ja. Das war nach dem Anschluss.“ Gedichte mit Titeln wie „Wir lieben Deutschland“, „Dem Führer“ oder „Hymnus auf die Heimkehr“. Daneben eine Graphik mit zwei jungen, blonden Männern, die gemeinsam eine Hakenkreuz-Fahne, und sich obendrein einander gegenseitig fest umarmt, halten. Ein paar Seiten weiter dichtet Baldur von Schirach zwölf Zeilen unter dem Titel „Hitler“. Ein Photo vom Führer auf der Gegenseite. Seine Rede an die Memeldeutschen vom 23. März 1939 ist auch abgedruckt. Das Kapitel „Feldherren und Soldaten“ bringt Friedrich den Großen und Ernst Jünger. Letzterer poltert schon in der Überschrift: „Wir ergeben uns nicht“. Dazu wieder eine Graphik, diesmal mit fünf tapferen Soldaten im Schützengraben, hart und kantig gezeichnet. Beim Kapitel „Um Ehre und Manneswürde“ endlich, klappe ich das Buch zu, wobei eine groundzeromäßige Staubwolke entsteht. „Da sind ja irgendwie so gut wie gar keine Frauen drin“, stelle ich spontan fest. „Was war denn los mit euch Mädels?“ – „Na, wir hatten natürlich unsere eigenen Schulbücher.“, sagt Oma. „Und da war auch so viel Hitler drin?“ – „Natürlich. Der war ja immer dabei. Und wenn der irgendwo hinkam, dann war immer gleich Aufregung.“

Ich kann mir meine Oma nicht wirklich aufgeregt vorstellen, doch sie erzählt: „Also, wenn der Hitler bei uns in der Stadt war, dann sind wir zum Hotel gezogen und haben gerufen.“

– „Aha. Was ruft man denn da so?“, frage ich. Oma überlegt, dann sagt sie: „Eins ging zum Beispiel: Lieber Führer sei so nett, zeig dich doch am Fensterbrett.“ Jetzt müssen wir beide lachen und ich denke an meine kleine Cousine, die auf Justin Bieber steht.

„Sind deine Schulbücher auch da oben?“ will ich wissen, mit dem Gedanken spielend, eines davon ebenfalls vom Speicher zu holen. Aber Oma winkt ab: „Ach wo! Wir konnten doch damals nix mitnehmen. Wir mussten ja sehen, dass wir fortkamen.“ Das riesige Haus, in dem wir nun beim Kaffee sitzen, ist ursprünglich das Elternhaus meiner Urgroßeltern väterlicherseits. Oma kam 1945 als Flüchtling hier an und wenn ich die Anekdote richtig im Kopf habe, kehrte mein Opa ungefähr gleichzeitig aus dem Krieg zurück. Sie lernten sich dann zufällig am Bahnhof kennen und heirateten umgehend. (Wenn Oma davon erzählt klingt es wirklich so, als hätten sie noch am Bahnhof geheiratet.) Zu Olims Zeiten gab es eben noch Liebe auf den ersten Blick. Man hatte nichts zu verlieren und keine Zeit, sich Gedanken über die Zukunft zu machen.

 

„Wie alt war Opa denn, als er dieses Zeug lesen musste?“, will ich wissen. „Na,“ überlegt Oma abwägend, „vierzehn oder fünfzehn vielleicht.“ So jung und schon derart durch den Propagandawolf gedreht, denke ich still bei mir. Die alten Termini kommen mir ohnehin wie böhmische Dörfer vor. Wenn ich zum Beispiel an das komische Partei-Reisebüro „Kraft durch Freude“ denke, dann denke ich, was ist das sprachlich nur für ein Stuss. Ich meine, ich kann mich freuen, wenn ich kräftig bin, also Freude aus meiner Kraft schöpfen. Aber umgekehrt? Kraft durch Freude? Das geht doch gar nicht. Ich werde einfach nicht kräftiger allein dadurch, dass ich mich freue. Wenn das der Fall wäre, wie lustig müsste es da in unseren Fitnessstudios zugehen. Das Vokabular scheint suspekt und ich frage mich (und Oma), ob die allgemeine Volksverdummung und die Ungerechtigkeit ihr damals nicht gehörig auf den Wecker gingen, doch sie sagt, man hätte das eigentlich gar nicht so richtig gemerkt: „Wir hatten ja eher das Gefühl, dass nun alles ganz besonders gerecht zuging, weißt du. Da herrschte plötzlich Ordnung. Kein Hü und Hott. Da war einer, der ganz klar die Wahrheit gesagt hat, also für uns damals.“

 

War es tatsächlich so, dass eine echte, unwiderlegbare Wahrheit durch eine einzige Person verkündet wurde? Das scheint mir unmöglich, doch Oma meint, das sei eben so gewesen und damals sei man froh gewesen, wenn mal einer die Wahrheit sagte, weil dadurch herrschte Ordnung und alle hätten plötzlich Arbeit und was zu essen gehabt. Mit diesen Worten legt sie mir ein großes Stück Kuchen auf den Teller und fügt hinzu: „Den ganzen Schlammassel, der dann später kam, hätten wir uns ja in unseren kühnsten Träumen nicht denken können.“ Die offensichtliche Kritiklosigkeit der Dreißigerjahre kann ich mir hingegen nur schwer denken: „Oma, wie soll ich mir denn so einen Wahrheitsbegriff vorstellen?“, frage ich und sie überlegt. Dann sagt sie: „Für deine Generation ist das vielleicht ungefähr so wie mit dem Neger im Fernsehen.“ – „Welcher Neger?“, frage ich. Von Oma erwarte ich keine politische Korrektheit und der Verständigungsbasis zuliebe lasse ich mich auch gern mal auf ihre Begriffe ein. „Du kennst doch diesen glatzköpfigen Neger aus der Werbung, der immer sagt, dass wir einen Wechselkurs brauchen?“ Oma besitzt kein Handy und mit SMS kennt sie sich auch nicht aus. Sie hat seit Jahr und Tag ihren Telekom-Festnetzanschluss, aber sie weiß, der besagte Neger trägt immer einen schicken Anzug, er sieht sehr sauber aus und sagt immer: „Das ist die Wahrheit.“ Und dieses „Das ist die Wahrheit.“ klingt für sie überzeugend und glaubwürdig, obwohl sie eben gar kein Handy braucht und nie eines kaufen würde, aber sie glaubt ihm, dass das, was er da sagt, die Wahrheit ist. „Und genauso“, sagt sie „genauso war das auch beim Hitler.“ Während ich nun recht gedankenleer auf den Kuchenteller vor mir schaue, fügt Oma mit Bestimmtheit hinzu: „So ist das nämlich mit der Wahrheit.“ Nach totalem Stillstand, fängt es in meinem Kopf langsam wieder an zu rattern. Was weiß ich eigentlich über Wahrheit? Mir fällt Habermas ein und damit sein Zweistufenmodel. „Wahrheit ist Konsens“, sage ich.

„Wer sagt das?“, fragt Oma.

„Habermas.“

„Der hat doch keine Ahnung“, sagt Oma. „Dein Opa, dein Vater und dein Onkel konnten früher ganz harmonisch einer Meinung sein, und trotzdem stellte sich am Ende oft heraus, dass sie alle unrecht hatten. Zum Beispiel beim Wohnzimmerumbau damals, ach, da waren deine Eltern noch gar nicht lange verheiratet, auf jeden Fall waren sich die Herren einig, die Wand zum Esszimmer sei keine tragende Wand gewesen und wir wissen ja, was dann los war.“

„Oma,“ sage ich, „der Habermas hat’s nicht so mit Mauerwerk. Und bei seiner Wahrheit ist auch gar nicht das Ergebnis wichtig. Konsens wird gerade nicht über Ergebnisse erzielt, sondern über die formalen Bedingungen, wie Ergebnisse entstehen. Wenn man sich in den Bedingungen einig ist, kann man die daraus entstehenden Gegebenheiten leichter als Wahrheit akzeptieren. Aber primär ist das Ergebnis zunächst einmal unwichtig.“

„Aber Bub“, sagt Oma, „was redest du denn da für einen Unsinn. Es ist doch genau umgekehrt. Wichtig ist nicht, wie das Ergebnis zustande kommt. Was hinten rauskommt ist wichtig.“ Mit diesen Worten schleudert sie einen großen Löffel selbstgeschlagene Sahne auf mein Kuchenstück. Ihre Sahne ist nicht nur süß und schneeweiß, sondern auch so fest, dass man Häuser daraus bauen könnte. Omas Schlagsahne hat Substanz und wenn auch nur ein Klecks davon auf einem Kuchenstück landet, dann ist mit diesem Augenblick jegliche Diskussion beendet, dann wird erstmal gegessen. In diesem Punkt sind wir in der ganzen Familie stets einer Meinung. Sogar mein Vater und ich. Das ist die Wahrheit.

 


Lichtwolf Nr. 37

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