Die Standards: Methode, Begriff und Literaturbeleg

Die geisteswissenschaftlichen Fächer arbeiten nach einem einheitlichen Programm, das sie zu Wissenschaften erhebt. Wer hat dieses Programm geschrieben? Das ist das Thema des zweiten Teils der Essayreihe zur Kritik der Geisteswissenschaften.

von Stefan Schulze Beiering, 07.11.2010, 16:54 Uhr (Neues Zeitalter)

Die Stadt Göttingen, berühmt durch ihre Würste und Universität, gehört dem Könige von Hannover, und enthält 999 Feuerstellen, diverse Kirchen, eine Entbindungsanstalt, eine Sternwarte, einen Karzer, eine Bibliothek und einen Ratskeller, wo das Bier sehr gut ist.“

Das ist der berühmte Anfang von Heinrich Heines „Reisebildern“. Er rückt Würste und Universität eng zusammen. Wer das nicht witzig findet, dem geht etwas verloren. Man kann es nicht gut beschreiben; hier der hintergründige, leichte Spruch – dort die wichtigtuerische, akademische Würde.

Geist und Universität, das scheint nicht zusammenzugehen. Die Klagen darüber sind alt, nicht neu wie die Bologna-Reform, die angeblich den akademisch-wissenschaftlichen Eros gegen eine oberflächliche technokratische Orientierung eingetauscht habe. Heidegger höchstpersönlich fragte sich, ob der Philosoph im Gelehrten noch eine Chance habe, und Nietzsche war zwar selbst Professor, aber er löste sich aus dem Betrieb.

Nun ist es vielleicht nicht angesagt, sich auf Leute wie Heidegger oder Nietzsche zu berufen. Es könnte bestimmte weltanschauliche Neigungen implizieren, die besser nicht beworben würden. Dieser Verdacht wäre mir nicht so wichtig. Ein anderer Vorwurf, verbunden mit den bekannten Namen, wäre mir eher peinlich, nämlich wie ein Geisteswissenschaftler zu argumentieren, indem ich auf Autoritäten verweise, um meine Meinung zu stützen. Warum rede ich also mit Heine? Ich brauchte eine Einleitung für diesen Essay.

Dieser Hinweis auf das ureigene Anliegen ist umso mehr wichtig, da ich in der Folge in die Historie abtauche, um mit dem Dreizack Neptuns große Fische aufzuspießen. Ich tue das nicht der Argumentation wegen. Erstens halte ich die Geschichte für nicht maßgeblich, was das Fällen eines Urteils betrifft. Zweitens kommt meine Wut auf die Geisteswissenschaft aus der Gegenwart und: der persönlichen Betroffenheit. Ich glaube, dass man alles direkt, also aus den aktuellen Bezügen begründen kann. Exkurse in die Geschichte sind nur ein Zusatz, kein Beleg. Sie beweisen nichts, aber sie können etwas erläutern.

Die Methode

Die Methode wurde durch René Descartes formuliert, der dafür einen festen Namen im System erhalten hat. Descartes begründete den Rationalismus der frühen Neuzeit. Er fand eine Antwort auf den Zweifel. Das war das Problem seiner Zeit, ein Problem, das uns bis heute geblieben ist. Zum Ausgang des Mittelalters hatte der Glaube seine unangefochtene Stellung verloren, speziell der Glaube an die hergebrachte göttliche Ordnung. Was sollte man aber nun denken, was glauben, wie die Welt sehen?

Ein Jahrhundert zuvor hatte Martin Luther die alte, obsolet gewordene Religion zu reformieren versucht, um sie menschenfreundlich und „wahrer“ zu machen. Die gelehrten Humanisten hatten sich für eine neue, umfassende Bildung „ad fontes“ bewegt, um von den antiken Autoren zu lernen. Descartes setzt auf ein ganz anderes Pferd. Der Verstand soll‘s richten. Er ist das Entscheidende. Er ist es allein.

Später wird der französische Denker mit Hilfe des Verstandes beweisen, dass es Gott gibt. Das ist bezeichnend. Gott soll bewiesen werden. Er wird nicht einfach geglaubt. Der Verstand ist die höhere Instanz, wenigstens aber ein wichtiger Unterstützer der wahren Religion. Zurückgewendet erhält der Verstand so eine moralische Legitimation, denn er ist religiös kompatibel.

Was die Philosophie betrifft, so findet Descartes ihre bisherigen Fundamente unsicher. Ungeprüfte Meinungen lehnt er ab. Einzig die Mathematik scheint ihm hilfreich zu sein, aber er kann sie nicht einfach auf das Leben übertragen, und so beschließt er eine eigene Logik des Verstandes, die aus vier Schritten besteht:

1. Nur Sachen als wahr anerkennen, die evident sind, unbezweifelbar wahr.

2. Jede schwierige Sache in Teile zerlegen, um sie dann leichter lösen zu können.

3. Von den einfachen evidenten Sachen zu den schwierigen zusammengesetzten Dingen fortschreiten und dabei auch den schwierigsten Komplexen eine Ordnung unterstellen.

4. Vollständig auflisten und allgemein übersichtlich formulieren, um nichts zu vergessen.

Wir sehen hier in aller Klarheit eine komplette Theorie. Sie stellt bis heute das Programm der Wissenschaft dar. Zuerst formuliert sie aber nur den Beschluss, nach dem Descartes seinen Geist einrichtet, um „sich an Wahrheiten zu weiden und sich in keiner Weise mit falschen Gründen zufrieden zu geben“. Er will niemals von dieser Vorgabe abweichen: „…ich fasste den festen und unabänderlichen Entschluss, kein einziges Mal in ihrer Befolgung fehlzugehen.“

Gemäß seiner methodischen Forderung in vier Schritten muss Descartes nun eine erste einfache, ja einfachste Sache finden, an der er unbezweifelbar festhalten kann. Es ist, oh Wunder, sein Bewusstsein zu denken: Cogito ergo sum. Descartes repetiert seine Voraussetzung, dass der Verstand die entscheidende Sache sei. Da er sicher wisse, dass er denke, sei er denkend existent.

Wir lernen hier den ersten Trick aller methodischen Denker, eine Voraussetzung, die ich kreativ nenne, also eigensinnig geschöpft, als logisch hergeleitet auszugeben. Eigentlich handelt es sich um einen Zirkelschluss: Da ich Urteilsvermögen habe, kann ich richtige von falschen Urteilen unterscheiden, also urteile ich richtig, wenn ich es richtig mache: Ich habe Urteilsvermögen.

Die bei Descartes gesetzte Selbstgewissheit der Vernunft ist bis heute Voraussetzung aller Wissenschaft; in den Naturwissenschaften hat sie erhebliche Ergebnisse erzielt. In den Geisteswissenschaften führte es auf Abwege, denn die wissenschaftliche Methode gelangt hier zu Zirkelschlüssen. Es kommt nie mehr heraus, als man hinein gegeben hat, also die Bestätigung des Verstandes und die Bestätigung der methodischen Vorgabe.

Der zweite Schritt nach Descartes ist die Zerlegung, also die Analyse. Wissenschaft ist daher kleinteiliges Denken und gerade das Gegenteil von ganzheitlichen Ansätzen. Ganzheitlich ist nur der Anspruch, der im dritten Schritt folgt, dass den Kleinteilen eine vernünftige Ordnung unterstellt wird, womit die verstandesgemäße Logik als Weltordnung angenommen und etabliert wird. Damit gemeint sind Gesetze und Prinzipien wie in der Mathematik. Die Kleinteile sollen sich danach bewegen. In der Geisteswissenschaft werden diese Gesetze zu Thesen und Theorien, aber das System bleibt das Gleiche und die gewonnenen Details aus der Analyse werden auf eine regelhafte Aussage bezogen. Die Details erhalten Belegcharakter für die These.

Hier wirkt der Zauber methodischen Denkens, denn analysierte Gegenstände werden wahr. Zuvor waren sie nur vorläufige Erscheinungen, gefühlsmäßige Eindrücke, Schattenrisse. Richtig analysiert mutieren sie zu wahren Ideen. Der Geisteswissenschaftler reinigt sich wie Descartes von falschen Vorstellungen, um sich an Wahrheiten zu weiden; er betreibt psychische Askese und spirituelle Vervollkommnung. Aber nicht nur subjektiv erhält er die Absolution vom Zweifel. Die Analyse erlöst die ganze unreine Gesellschaft der denkenden Menschen und führt sie zum Tempel des Wissens. Der ist angehäuft mit wahren Urteilen und Gedanken, der ist die Wissenschaft selbst.

Damit nichts vergessen wird, kein Staubkorn der Wahrheit entfalle, wird mit dem Pinsel der Boden des Tempels gefegt, jede Ritze. Alles wird abgeheftet und ausführlich beschriftet. Das ist der vierte Schritt der Methode nach Descartes. Gut ist, dass er dabei Übersichtlichkeit fordert. Schlecht ist, dass keiner mehr die Wissenschaft übersehen kann. Wissenschaft ist also unübersichtlich, besonders Geisteswissenschaft. Die Unübersichtlichkeit ist notwendige Folge der Zerlegung in Kleinteile.

Literaturverzeichnis

Photo: Timotheus Schneidegger

Die Methode der Geisteswissenschaft, die unter dem Namen der Analyse das Entscheidende hervorhebt, hat also den Zweck, wahre Aussagen zu machen, um den Zweifel zu überwinden. Heute sagt man anstelle von Wahrheit Wahrscheinlichkeit oder einfach Vernünftigkeit. Das kommt auf dasselbe heraus.

Methode bedeutet: Denken nach dem Vorbild der Mathematik, logisch vorgehen, schrittweise. Das Ziel ist der Beweis. Ein Beweis ist dem Zweifel enthoben, er löst das Problem. Wir können etwas beweisen, wenn wir eine logisch einsichtige Methode haben. Methode bedeutet, eine Technik zum Beweisen zu haben. Die Methode ist der Schlüssel zur Wahrheit. Sie schöpft Wissen.

Methode bedeutet: Man löst das Problem des Zweifels, indem man eine Seite seines Ichs hervorhebt und für sicher erklärt und dafür die anderen Seiten seines Ichs abwertet und dem Irrtum preisgibt. Methode bedeutet Selbstbestätigung durch Fokussierung auf den Verstand. Methode bedeutet die Verteufelung von Kreativität. Methode bedeutet den Zwang zur Wiederholung der immer gleichen Schritte. Abweichung ist nicht erlaubt. Man hat die wahre Lehre.

Der Begriff

Entscheidend für das Werden der Geisteswissenschaft in Deutschland war der Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert. Kant veröffentlichte 1781 die „Kritik der reinen Vernunft“, in der er das Programm nach Descartes original anwandte. Wie Descartes bezieht er sich auf die Mathematik als Vorgängerin im wissenschaftlichen Denken. Kants Thema ist der menschliche Geist, den er zerlegt. Er betreibt also als erster eigentliche Geisteswissenschaft, indem er den Geist selbst der Analyse unterzieht. Sein Motiv ist das Gleiche wie bei Descartes; er möchte in sicheren Schritten vorwärts kommen und etwas überprüfen, anstatt einfach zu glauben und zu spekulieren.

Seine Untersuchung führt zu dem, was er sich vorgenommen hat. Er entwirft ein System, nach dem der Geist funktionieren soll, um vernünftig zu sein. In diesem System haben geglaubte Aussagen nur spekulativen Charakter. Die Vernunft lässt sich nur auf sinnliche Erfahrungen anwenden.

Lustig ist, dass Kant, ähnlich wie Descartes, der Gottesbeweise anführte, um die Vernunft zu heiligen, moralisches Handeln anpries als Konsequenz einer praktisch ausgerichteten Vernunft. Auch er benötigt noch die Reklame des Guten für den Vernunftgebrauch. Moral scheint demnach vernünftig zu sein und Vernunft moralisch, eine Verschränkung, die wir heute noch bei Habermas finden. Dass man die Vernunft entfesseln und sehr wohl auch gegen die Moral richten kann, hat dagegen Nietzsche gezeigt.

Die Selbstgewissheit der Vernunft, die Descartes gesetzt hatte, bestärkte Kant noch, denn er hat nicht nur behauptet, sondern per Analyse und Ordnungsprinzip nachgewiesen, dass die Vernunft regiert. Er markiert ihren Zuständigkeitsbereich und tabuisiert, was der Vernunft nicht zugänglich sei. Wahr ist, was vernünftig ist, und das ist das, was analytisch verifiziert werden kann.

Dabei ringt er dem menschlichen Geist weitere Fähigkeiten ab: Intuition und Introspektion verlieren ihre Bedeutung, da die Mechanik der Vernunftstätigkeit erkannt ist. Die geistigen Prozesse werden selbst zum Thema der Wissenschaft; sie können und müssen wissenschaftlicher Analyse unterzogen werden, um auf die Wahrheit hin überprüft zu werden. Ab jetzt steht alles zum analytischen Abschuss frei: Sprache und Literatur, Psyche und Gefühl, Kunst und Kultur. Nur was vor der Analyse besteht, ist fürderhin wahr. Die Eisdusche der Wissenschaft ergießt sich übers geistige Land. Narnia erfriert.

Ausgestattet mit einer derartigen Machtfülle geht Hegel wenig später hin und erklärt: „Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existiert, kann allein das wissenschaftliche System derselben sein.“ Seine „Phänomenologie des Geistes“ von 1807 beschränkt sich nicht mit Kant auf sinnliche Gegebenheiten; dafür führt er ein neues Element ein, um wissenschaftlich wahr zu bleiben. Dieses neue Element wird mit allem Pathos versehen. Es ist der Begriff.

Gedanken sind nur Gedanken. Sie müssen erst Begriffe werden, um wahr zu werden, um zu geistigem Wesen aufzusteigen. Das Sein vermittelt sich unmittelbar im Begriff. Der Begriff ist der Ausdruck der Wahrheit. Diese ethische Verknüpfung von Hegel hält bis heute.

Dabei spielt keine große Rolle, dass Hegels Vorstellung vom Begriff eine deutlich andere ist als die heute geübte, die formalistische, per Definition, zur Festlegung einer sachlichen Bedeutung und zur sicheren Bestimmung eines Themas für die fachliche Kommunikation. Ein Begriff bedeutet aktuell, sachlich genau und intersubjektiv verlässlich zu reden. Hegel verstand ihn als das „Wahre in der Form des Wahren“. Er sah Begriffe als kreisende Selbstbewegungen, strahlend wie die Ideen Platons.

Wichtig ist die moralische Weihe des Begriffs, die Hegel spendet, denn die Bindung der Wahrheit an den Begriff ist gleich geblieben und seither Credo der Wissenschaft. Mag sich die Vorstellung eines Begriffs profanisiert haben, die unbedingte Abhängigkeit der Geisteswissenschaft vom Begriff ist so stark wie eh und je.

Heute verschmelzen Begriff und Methode zur begrifflichen Methode. Kein geisteswissenschaftlicher Einführungsband wird auf eine Einführung in die Grundbegriffe des Fachs oder auf Hinweise zum begrifflichen Schreiben und Exzerpieren verzichten.

Hegel spricht von der notwendigen „Anstrengung des Begriffs“, eine Formulierung, die noch Karl Rahner, der Theologe, in seinem „Grundkurs des Glaubens“ aufnimmt. Wir kommen hier zur psychischen und literarischen Seite des Begriffsglaubens.

Begriffliches Sprechen ist mühsam, Begriffssprache stilistisch eine Zumutung. Sie führt zu nahezu identischen Wiederholungen in nahezu identischen Wortfügungen. Sie rückt den Begriff, das Nomen, in das Zentrum des Satzes, sodass der Nominalstil zur Pflicht wird. Im systemischen Denken der Wissenschaft bedeutet das: lange Konstruktionen, um komplexe Abhängigkeiten darzustellen.

Begriffssprache führt zudem zu extremem Fremdwortgebrauch und fachsprachlicher Exklusivität. Man kann nicht einfach so lesen und verstehen. Das Wissen wird verhüllt. Kennzeichnend ist die Unverständlichkeit.

Wer den Aufwand der Entschlüsselung auf sich nimmt, kommt zu frappierend banalen Aussagen. Die Form der Vermittlung und der gebotene Sinn stehen in krassem Widerspruch. Die inhaltliche Aussage ist so sehr verdünnt, dass sie nahezu unkenntlich ist oder beliebig wird. Der Lesende kann keinem roten Faden folgen. Seine Zustimmung wird nicht durch Einsicht gewonnen, sondern durch den Glauben an die Wissenschaft und ihr begriffliches Programm. Er soll an die Wahrheit in komplizierten und entsinnlichten Konstruktionen glauben.

Das geht schon mit Kant los, dessen Stil legendär und berüchtigt ist. Hegel steht dem in nichts nach. Um auf Heinrich Heine, den Meister des literarischen Plauderns zurückzukommen: Er erzählt in seinen „Geständnissen“, dass er sich in jungen Jahren vorgenommen hatte, Hegels Philosophie besser zu vermitteln und lesbar zu machen. Er arbeitete also intensiv an der „Übersetzung“, bis er fertig war. Dann überkam ihn ein befremdliches Gefühl, er zögerte mit der Veröffentlichung und schließlich warf er sein Hegel-Manuskript in den Kamin. Das Aufflackern der Papiere gefiel ihm prächtig und er fühlte sich wieder wohl.

Wissenschaft und Begriffssprache existieren nur miteinander. Die Begriffssprache ist die praktische Verwirklichung der methodischen Forderung von Descartes, man müsse alles vollständig und sorgfältig aufschreiben. Heute schreibt man hundertseitige Hausarbeiten und verlangt tausendseitige Lektüre dafür – und das ist untertrieben. Es macht auch nichts, dass kein anderer sich dafür interessiert. Hauptsache, das Thema ist begrifflich sauber und vollständig dargestellt.

Der Literaturbeleg

Wilhelm von Humboldt reformierte nach der Niederlage Preußens gegen Napoleon das preußische und damit das spätere deutsche Universitätswesen. Er war Zeitgenosse Kants und Hegels und ganz im Trend. Humboldt rückte die Geisteswissenschaft in den Mittelpunkt des Geschehens. Die Philosophie sollte als zentrale Sinnstifterin die verschiedenen Disziplinen zusammenhalten. Kernfach wurde in der Folge aber die Germanistik, die in der Beschäftigung mit Sprache und Literatur zur eigentlichen Sachwalterin der geistigen Äußerungen der deutschen Kultur wurde.

Das hatte mit der Emanzipation der Naturwissenschaften zu tun, deren Erfolg die Geisteswissenschaften hin zum 20. Jahrhundert in eine derartige Sinnkrise stürzte, dass Wilhelm Dilthey sie von den Naturwissenschaften abgrenzen und neu aufrichten musste, damit sie nicht im Lamento untergehe. Dilthey formulierte als geisteswissenschaftlichen Kern eine besondere Methode zur Textauslegung, die Hermeneutik. Der selbstbestimmte Weg der Geisteswissenschaft streitet seither über die Richtung zwischen einer hermeneutischen Methode, die die Sinnhaftigkeit und Kreisbewegung der Begriffe eines Hegel zum Vorbild hat, und einer analytischen Hermeneutik, die die Datenfixiertheit und lineare Mechanik eines Kant verfolgt. Dazu gibt es immer wieder infantile Versuche, doch Naturwissenschaft zu betreiben, indem man Hirnforschung integriert und Verhaltensmuster aus der Biologie in Rechnung stellt.

Immer ist das Selbstverständnis aber das der sich selbst bestätigenden Vernunft, einer Denkschule zur Klugheit, einer einzig richtigen, einzig möglichen Verstandesanwendung des Menschen. In der Praxis der Studierenden ist dafür der Literaturbeleg ähnlich zwanghaft geworden wie die Methode und der Begriff.

Der Literaturbeleg ist nicht durch die Philosophie eingeführt worden, sondern er ist, wie ich glaube, eine interne Entwicklung aus den Vorgaben von Methode und Begriff. Der Literaturbeleg entstand aus der universitären Gewohnheit, Begriffe und Methoden von anderen zu übernehmen, und sie dabei zu kennzeichnen.

Heute zeigt der Literaturnachweis die Belesenheit des Verfassers und seine Einordnung in den akademischen Betrieb. Er dokumentiert für den Professor, dass der Studierende gearbeitet hat und dass ihm der Text nicht etwa zugeflogen sei. Er führt den Studierenden auf ein Gebiet, wo er vollständig unterlegen ist und zementiert dadurch die Hierarchie. Er stattet den Professor mit unbeschränkter Machtfülle aus, da er nur auf seine Kenntnisse abhebt.

Positiv ausgedrückt, markiert der Literaturbeleg eine Entlehnung aus fremden Texten als geistiges Eigentum anderer. Er veröffentlicht die Vorarbeiten, auf denen ein wissenschaftlicher Text beruht, zeigt die Basis des Ansatzes, verknüpft gleichzeitig den Ort der eigenen Argumentation mit anderen Positionen, setzt ab, markiert, leitet her und entwickelt weiter.

Das führt in der Praxis zur totalen Auslieferung des eigenen Denkens an die allgemeine Vorgabe. Es verpflichtet zur Wahrnehmung aller früheren Beiträge zur Sache und zu einer Orientierung nach schriftlichen Autoritäten, um das Recht zu haben, überhaupt eine Orientierung vorzunehmen, also ein Thema anzufassen, Begriffe zu benutzen und eine Methode zu wählen.

Da alles schon irgendwie von irgendwem gesagt wurde, jedes Theorem von einem anderen abgeleitet werden kann, ist es unmöglich, selbstständig zu schreiben. Konkret gibt der Professor die Richtung vor. Er selbst hat sich auch so eingepasst und ins System geschrieben.

Dabei bestätigt der Literaturbeleg die Fiktion, dass die begriffliche analytische Methode so etwas wie Wissen hervorbringt und damit Fortschritt. Wir erinnern uns daran, dass Descartes und Kant endlich sicher vorankommen wollten im Reich des Geistes. Theoretisch kann durch den Literaturbeleg gezeigt werden, wo der neuerliche geistige Fortschritt gelungen ist, weil man ja alle Gedanken von früheren Wissenschaftlern kennzeichnet. Die wirklich neuen Gedanken wären negativ markiert, da ohne Beleg.

Nun kann man aber nicht denken, wenn man immer erst suchen muss, was Vorgänger gesagt haben. Nun gibt es auch keine neuen Ideen zur Sache, sondern nur einige bekannte Ansichten dazu. Die Belegtechnik verschleiert das, weil sie zur Verzettelung führt. Der Studierende verliert den Überblick und vor allem das Gefühl für sich selbst, für das eigene Urteil.

Dazu verhindert der Literaturbeleg das flüssige Schreiben so, wie der Begriff das auch tut. Schreiben und Denken gehen aber nicht im Stolpern, Anhalten, Zurückblicken. Hier muss man mutig sein und loslegen, sonst passiert nichts. Das bedeutet: Der Literaturbeleg ist der Feind des Ichs und der geistigen Bewegung.

Methode, Begriff und Literaturbeleg bilden das zentrale Movens der Geisteswissenschaft. Sie formulieren das selbst ausgestellte Patent auf Klugheit. Sie gehören alle auf den Schrottplatz.

Ich fordere die Menschenrechte: Gedankenfreiheit anstelle einer methodischen Zwangsjacke. Kultursprache anstelle von Begriffskonstruktionen. Selbstverantwortliche Argumentation anstelle von Literaturverweisen. Beteiligung aller geistigen Regungen anstelle der Diktatur der Vernunft.

Der nächste Teil dieser Essayreihe wird sich mit dem philosophischen Diktum von Subjekt und Objekt beschäftigen, das der Wissenschaft zugrunde liegt.

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