Das Gerede vom Herbst 2011

Darauf hätten Sie uns auch mal hinweisen können, liebe Leser: Dass es das Feuilleton heißt und nicht der! Nachdem wir also herzlich gegen den (das?!) Comment verstoßen und unsere Standesferne entblößt haben, stürzen wir uns wieder in das Feuilleton und seine Themen im vergangenen Herbst.

von Georg Frost und Timotheus Schneidegger, 19.12.2011, 22:27 Uhr (Neues Zeitalter)

Nach der Berliner Senatswahl, bei der sie am 18. September 8,9 Prozent der Stimmen erzielt hat, kehrte die Piraten-Partei (grienen wie „die Vorzeige-Trottel aus der Informatik-Fachschaft“, Stefan Gärtner, Titanic 11/11, S. 18) in den Diskurs zurück. Da ein Großteil der Journalisten in Berlin hockt, hält man dortige Verhältnisse für in bundesweiter Presse behandlungswürdig, ganz so, als reichte tatsächlich mal etwas über die Grenzen des Stadtstaats hinaus. Der Welpenschutz für die Piraten war jedenfalls abgelaufen, wie sich zeigte. Die taz und der Freitag nahmen die Internetpartei, die programmatisch der FDP ähnelt und Rot-grün die Stimmen klaut, wegen ihres niedrigen Frauen- und hohen NPD-Aussteigeranteils in die Mangel; besonders die FAZ bemüht sich dagegen, die jungen Parteigranden mit Gastbeiträgen und Blogs an sich zu binden. Hier hat man verstanden: Der Schlüssel zum Überleben als Feuilletonist im postliterarischen Zeitalter liegt darin, dass „die im Internet“ nur Zeug über sich selber lesen wollen.

Der Papst war Ende September auch da und zweifelte im Bundestag am Positivismus, was dem Feuilleton etwas zu kompliziert war, man war auch mit papistischer Verzückung (Matussek!) zu beschäftigt bzw. mit dem Lebertraining im Vorfeld der Frankfurter Buchmesse 2011, die in der ersten Oktoberhälfte die pflichtschuldigen Blätter das diesjährige Themenland Island durchnudeln ließ.

Der Finanzier des deutsch-französischen Literaturpreises Candide erklärte sich uneinverstanden damit, dass Handke den Preis bekommt und zog sich aus dem Sponsoring zurück. Vielmehr Aufmerksamkeit erhielt jedoch Sibylle Lewitscharoff, die für die Buchmesse einen Roman über Hans Blumenberg und einen Löwen geschrieben hat und diesen Herbst im Zentrum des traditionellen Preiseauskübelns stand. Daneben bot die Buchmesse wieder Gelegenheit, das Thema E-Books aufzuwärmen: ob es noch was wird damit, ob es um gedruckte Bücher nicht doch schade wäre usw.

Vor der Buchmesse wurde der Literaturnobelpreis dem schwedischen Lyriker Tomas Gösta Tranströmer zugesprochen; die naheliegenden Transformer-Witze sind zu naheliegend, es hatte offenbar auch wirklich niemand (außer natürlich Denis Scheck) je von ihm gehört, drum hielt man sich lieber an Lewitscharoff und drum hier stattdessen auch bloß die Info, dass Tranströmers Gesamtwerk angeblich unter 500 Seiten umfasst.

Es wirkte auch der Tod von Apple-Gründer, freelancer-Messias und Internetpapst Steve Jobs am 5. Oktober bis ins Feuilleton hinein, das sich in Guru-Verehrung überbot. Nach dem Tod des Medientheoretikers Friedrich Kittler, der den Deutschen Foucault und Derrida erschlossen und die Schreibkultur erklärt hat, gab es Mitte Oktober beflissene Nachrufe. Der Tod des flüchtigen Muammar al-Gaddafi „unter ungeklärten Umständen“ am 20. Oktober bot Gelegenheit, wie nach den Handyaufnahmen von Saddam Husseins Hinrichtung die mediale Entwürdigung der Entwürdiger zu behandeln.

Weit weg vom Niveau der arabische Aufstände, deren blutigster in Syrien anhält, waren die Proteste, die unter dem Motto „Occupy Wall Street“ von New York ausgehend Mitte Oktober Deutschland, besonders Frankfurt und Berlin sowie das Feuilleton erreichten. Dort wurde gegen die Macht der Banken gezeltet, hier wurde sie mit Essays bedacht. Ein anderes Thema dominierte im Oktober aber mindestens so sehr wie die Occupy-Bewegung: So viel Troja kam im Feuilleton nämlich seit Schliemann nicht mehr vor. Als Craig Venter 1999 die Entschlüsselung des menschlichen Genoms vermeldete, druckte Schirrmacher vier Feuilletonseiten mit dem „ ATGC-Code des Lebens“ voll. Als der Chaos Computer Club Mitte Oktober das Überwachungsprogramm der Kripo, den sogenannten „Staatstrojaner“ geknackt hatte, druckte Schirrmacher den Programmcode ab und macht eine Debatte auf, während der er seinen umarmenden Griff um die Piraten- und Digitalkultur verstärken konnte.

Am 31. Oktober proklamierten die Vereinten Nationen die Geburt des siebenmilliardsten Menschen und das lassen wir jetzt ohne misanthropischen Kommentar so stehen, weil Nina Pauer um diese Zeit herum in der ZEIT einen Besinnungsaufsatz über den zeitgenössischen Ironiezwang veröffentlicht hat. Es gab auch Dringenderes, denn als Anfang November der griechische Ministerpräsident Papandreou bei sich zu Hause einen Volksentscheid über weitere EU-Finanzhilfen d.h. Sparmaßnahmen erwog und dafür von seinen EU-Kollegen gerüffelt wurde, machten Schirrmacher und Habermas ökonomisch diktierte Demokratiediffamation aus: „Wer das Volk fragt, wird zur Bedrohung Europas. Das ist die Botschaft der Märkte und seit vierundzwanzig Stunden auch der Politik.“

Als wäre das alles nicht schon Weimar genug, stellte sich Mitte November heraus, dass eine rechtsradikale Gruppe jahrelang unter den Augen von Polizei und Verfassungsschutz raubend und mordend durch die Republik ziehen konnte. Das Für und Wider von Verboten der NPD und des Verfassungsschutzes galt es nun zu erörtern.

Am 17. November war UNESCO-Welttag der Philosophie, was zwei Verlage nutzten, um – den „Megatrend Philosophie“ (NZZ) bedienend – dem Lichtwolf mit Philosophie-Magazinen („Hohe Luft“ und … ja: „Philosophie Magazin“) Konkurrenz zu machen. Die flankierenden Pressemeldungen haben zu nicht mehr als launigen Publikationsvermeldungen im Feuilleton geführt.

Wenn mit Montaigne gedacht Philosophie bedeutet, sterben zu lernen, dann weiß man, woher das große Liedermachermassaker im November kam. Scheiß-UNESCO. Nach Franz Josef Degenhardt starben Georg Kreisler, dem ausnahmslos jeder nachrief, sowie der Krebskranke Ludwig Hirsch (durch eigene Hand).

Schirrmacher hatte sich diesen Herbst alle Mühe gegeben, zum Helden der Saison zu werden. Doch kurz vor Fristablauf wurde ihm der verdiente Titel noch von einem weggeschnappt, der sich mit sowas auskennt: Pünktlich zur Aufhebung des Urheberrechtsverfahrens gegen ihn ließ sich Karl-Theodor zu Guttenberg von Giovanni di Lorenzo interviewen. Heraus kam ein Buch, das hoffentlich nicht auch auf 80 Disketten und vier verschiedenen Computern entstanden ist. Was es nun zu bedeuten hat, dass die ZEIT zunächst Peer Steinbrück als Krisenkanzler vom Krisenkanzler a.D. Helmut Schmidt empfehlen lässt und einen Monat später Guttenbergs politisches Comeback vorbereitet, das wüsste Schirrmacher wohl auch gern. Ihm bleiben nur Habermas und die Piraten. So ist die grausame Wirklichkeit des Feuilletons, zu der auch gehört, dass Christa Wolf Anfang Dezember noch einmal mit ihrem Tod von sich reden machte.

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