Woran wir reden, wenn…

…wir an einer „Kultur des Herzens“ reden: Man ahnt vielleicht, was Zufälle in einem Leser auslösen können, wenn er still für sich mit einem Text unter Menschen geht. Dialoge und Handlungen in seiner Umgebung misst er unweigerlich an dem, was er gerade liest, was offene Fragen und fertige Enttäuschungen heraufbeschwört. Unterwegs in der Gegenwart mit einem allseits recht bekannten Aufsatz.

von Michael Helming, 20.09.2011, 14:46 Uhr (Neues Zeitalter)

I. Die Textstelle

Vor ziemlich genau 90 Jahren entstand Walter Benjamins Essay „Kritik der Gewalt“, in dem er unter anderem Kriegsrecht, Streikrecht (als Gewalt durch Unterlassung!) und staatliches Interesse am Gewaltmonopol untersucht, wobei er die Funktion von Gewalt im Verhältnis von Mittel und Zweck im Blick hat. Wie er sagt, liegt die Aufgabe einer solchen Kritik in der Darstellung des Verhältnisses von Gewalt zu den Begriffen von Recht und Gerechtigkeit. Nebensächlich, ob Adorno, Arendt – wie in meinem Fall, die „Gesetzeskraft“ eines Derrida – oder sonst eine Quelle den Leser auf die Fährte dieser Schrift führt, falls er nicht gleich den direkten Weg genommen hat – ist er einmal in ihr angekommen, stolpert er bald über einen Ausdruck, der heutzutage arg blumig, nahezu hippiehaft und blauäugig erscheinen muss: „Kultur des Herzens“.

Photo: Michael Helming

(Photo: Michael Helming)

Wie schön das klingt, gerade hier, auf einer Bank, in der im Doppelsinn zugigen Bahnsteighalle des Stuttgarter Hauptbahnhofs. Ist doch dieser Ort in den letzten Monaten zu einem Ort des Widerstands, zu einem Ort der Gewalt und konkurrierender Gewalten geworden. Allerdings soll hier nicht von Politik gesprochen werden, nicht von Konflikten zwischen dem Staat und seinen Bürgern, sondern lediglich von einzelnen Privatmenschen, denn ihnen allein billigt Benjamin diese wunderbar anmutende „Kultur des Herzens“ zu. Wörtlich schreibt er: „Ist überhaupt gewaltlose Beilegung von Konflikten möglich? Ohne Zweifel. Die Verhältnisse zwischen Privatpersonen sind voll von Beispielen dafür. Gewaltlose Einigung findet sich überall, wo die Kultur des Herzens den Menschen reine Mittel der Übereinkunft an die Hand gegeben hat. Den rechtmäßigen und rechtswidrigen Mitteln aller Art, die doch samt und sonders Gewalt sind, dürfen nämlich als reine Mittel die gewaltlosen gegenübergestellt werden. Herzenshöflichkeit, Neigung, Friedensliebe, Vertrauen und was sich sonst hier noch nennen ließe, sind deren subjektive Voraussetzung.“ Für mein heutiges und natürlich eher skeptisches Empfinden traut der Autor seinen Mitmenschen hier sehr viel Gutes zu: Herzenshöflichkeit, Neigung, Friedensliebe und Vertrauen – kann der durchegozentrierte Konsument des Jahres 2011 mit diesen Begriffen überhaupt noch etwas anfangen; kennen wir die „reinen Mittel“ Benjamins überhaupt noch? Wohl nur, wenn unsere Wikipedia sie kennt, fragen wir also zunächst einmal – von unserem iPhone aus – ebendort nach.

Höflichkeit ist demnach eine Tugend, „deren Folge eine rücksichtsvolle Verhaltensweise ist, die den Respekt vor dem Gegenüber zum Ausdruck bringen soll“, wobei ihr Gegenteil die Grobheit ist. Unser Internet weiß also, was Höflichkeit ist und – man staune – es kennt sogar Herzenshöflichkeit: „Eine gerade nicht distanziert-kühle Höflichkeit wird auch als Herzenshöflichkeit bezeichnet.“ Folgt man dem anschließenden Link zum Taktgefühl, so wird letzteres als umgangssprachliche Bezeichnung für die Fähigkeit definiert, „mit anderen Menschen in Kontakt zu stehen, ohne sie zu brüskieren oder ihnen unangemessen zu nahe zu treten.“ Wir wollen also, trotz Egoismus, bemüht sein, unsere Mitmenschen nicht in Verlegenheit zu bringen, wir drücken uns, ihnen gegenüber, stets distanziert und respektvoll aus, wir grüßen artig, sagen bitte und danke. Der Bahnsteig füllt sich langsam mit Menschen. Man hält Abstand, wartet in schweigender Herzenshöflichkeit.

Friedensliebe leitet die Wikipedia umgehend zum Pazifismus weiter, wo sogleich aus „Pazifismus: Ideengeschichte, Theorie und Praxis“ der Schweizer Autoren Bleisch und Strub zitiert wird: „Unter Pazifismus versteht man im weitesten Sinne eine ethische Grundhaltung, die den Krieg prinzipiell ablehnt und danach strebt, bewaffnete Konflikte zu vermeiden, zu verhindern und die Bedingungen für dauerhaften Frieden zu schaffen. Eine strenge Position lehnt jede Form der Gewaltanwendung kategorisch ab und tritt für Gewaltlosigkeit ein.“ Wie weit konnte Walter Benjamin eigentlich Pazifist sein, wenn er gewaltfreie Lösungen von Konflikten zunächst lediglich unter Privatpersonen aufzuspüren vermochte?

Neigung. Laut Begriffsklärung der Wikipedia in unserem Sinne sowohl „persönliche Vorlieben“, als auch „Grad der dispositionellen Eigenschaft zu Willens- oder Triebhandlungen“. Tja, da können die postmodernen Egozentriker sich also was Passendes raussuchen. Ich bin geneigt, hier legitim-eigenbrötlerische Universen in einer Vielzahl auszumachen, wie es Menschen mit eigenem Willen gibt; teilweise sogar mit über den eigenen Tellerrand gerichtetem Verantwortungsbewusstsein.

„Unter dem Begriff Vertrauen wird die Annahme verstanden, dass Entwicklungen einen positiven oder erwarteten Verlauf nehmen. Ein wichtiges Merkmal ist dabei das Vorhandensein einer Handlungsalternative.“ Dies unterscheidet Vertrauen von Hoffnung, die lediglich eine Zuversicht auf positiven Verlauf beinhaltet. „Vertrauen beschreibt auch die Erwartung an Bezugspersonen oder Organisationen, dass deren künftige Handlungen sich im Rahmen von gemeinsamen Werten oder moralischen Vorstellungen bewegen werden.“

Das moralische Rüstzeug, von dem Walter Benjamin ausgeht, scheint also auch heute noch vorhanden zu sein. Entweder man hat eine Kinderstube oder man kann sie zumindest googeln. Wer letzteres tut, darf in diversen Blogs so manches nachlesen, was zur „Kultur des Herzens“ mehr oder weniger weit in die Menschheitsgeschichte zurück- und hineingedacht wird. So lesen wir beispielsweise bei Jelle van der Meulen, der die Werke Rudolf Steiners in den Niederlanden herausgegeben hat: „In einer Kultur des Herzens verabschiedet man sich von der Illusion, dass wir uns immer im Griff haben & im Griff haben können & im Griff haben müssen. Was die Wikinger schon wussten: in einer Kultur des Herzens rastet man manchmal auch aus. Oder, was in den dionysischen Mysterien schon bekannt war: auch ein Rausch kann sinnvoll sein.“ Diese Wikinger-Behauptung scheint mir besonders nach den Ereignissen vom 22. Juli 2011 zunächst ein wenig zynisch zu klingen. An anderen Stellen schreibt van der Meulen: „Ich meine, dass eine Kultur des Herzens gerade dort beginnt, wo wir anfangen über Sachen zu sprechen, über die wir nicht reden können.“ oder „Und darin liegt gerade das Herz einer Kultur des Herzens: den Menschen in ihrer Biographie das Blühen zu ermöglichen.“ Eine ganz andere Quelle spricht von einer bedrohten Kultur des Herzens, von einer „uralten pädagogischen und sozialen Tugend, die im Zeichen des allzu hektischen, bürokratischen und funktionalen Denkens und Handelns unterzugehen droht.“ Derrida liefert uns bekanntlich lieber zwei Gewalten aus, der „Entscheidung ohne entscheidbare Gewissheit“ hier, und der „Gewissheit des Unentscheidbaren“ dort, statt uns in einer „Kultur des Herzens“ abzustellen. Benjamin meint zwar, wir Privatmenschen hätten das Zeug, dort klarzukommen, aber auch ich bin skeptisch: Immer wieder schaut in meiner Umgebung der eine oder andere Reisende auf die Uhr. Es ist laut und ungemütlich am Bahnsteig 14, aber es bleibt friedlich.

II. Das Umfeld

Signalstörungen behindern den Verkehr, heißt es. Die dünne Stimme aus dem Lautsprecher geht unsauber knarrend im Lärm am Bahnsteig unter, ausgelöscht von gelebter Interferenz, von multiplen, sich unberührt kreuzenden Lebenswegen. Ausreden (besser: Ausflüchte) sind alles andere als Entschuldigungen, obwohl sie genau das sein möchten, um nicht doch als allzu offensichtliche Lügen aufzufallen. (Benjamin weist ausdrücklich auf die ursprüngliche Straflosigkeit von Lügen hin!) Ausreden sind mehr oder weniger plakativ angelegte Durchsagen, die durch häufige Wiederholung nicht glaubwürdiger werden, jedoch den Empfänger mit jeder Wiedergabe gleichgültiger machen, ihn verstimmen, den Eindruck von Machtlosigkeit und dem ewig gleichen Lauf der Dinge vermitteln. Ausreden sind Aussagen minderer Qualität. In einer demokratischen Gesellschaft herrscht Konsens darüber, dass jedem Individuum alle relevanten Informationen verfügbar gemacht werden müssen. Niemand behauptet – oder wagt es gar zu fordern – diese Informationen müssten auch allgemein verständlich und nachvollziehbar sein. Die Binsenweisheit von den vielen Wahrheiten, die es meist tatsächlich gibt, entlastet uns genauso wenig vom Unwissen wie die jüngst kultivierte Agnotologie, die sich vor allem mit Manipulation, Unterdrückung und Selektion von Informationen beschäftigt, erkennend, dass Zweifel ein sehr wirksames Mittel gegen Fakten darstellen können. Es sind nicht allein Wirtschaft und Politik, die darum wissen. Mehr oder weniger unwissentlich praktizieren die meisten von uns längst selbst die Macht der Ignoranz. Wir kokettieren mit dem Nichtwissen der anderen über unsere Person, mit einem privaten, intimen Vorsprung in Sachen Selbstbewusstsein. Paradoxerweise wird dabei oft nach außen eben nicht mangelnde Auskunftsbereitschaft kommuniziert – es gibt genug sinnlose Informationen zu streuen – sondern statt dessen ein tiefgreifender Mangel an Respekt. Im Wortlaut von Tocotronic gibt es eine „Herzlichkeit, jenseits von jonglieren“, was angeblich „nicht so schwierig zu kapieren“ sei. Eine gute Begründung für die Unterlassung einer Erklärung. Die Hamburger Schule pflegte einen gelangweilten Mangel an Respekt, nicht nur in „Ich verabscheue euch wegen eurer Kleinkunst zutiefst.“ Ist es da nicht ein Wunder, dass wir zu Hunderten hier auf dem Bahnsteig stehen, ohne in eine riesige Schlägerei zu geraten?

III. Der erste Dialog (in freier Wildbahn)

Hauptsache ankommen. Irgendwann. Was sind schon siebzig Minuten Verspätung, mit denen der verkehrsrote Interregio-Express in den Bahnhofskopf einrollt. Ab hier kann ich durchfahren, habe also keine Angst mehr um Anschlusszüge. Entschädigung? Von der Bahn? Nicht im Traum denke ich daran, für einen lächerlichen Gutschein über ein paar Euro einen bürokratischen Mechanismus auszulösen, den man kundenverachtend nennen könnte, der sich so glänzend in Servicemechanismen einfügt, wie große Konzerne sie in den letzen zwei, drei Dekaden kreiert und etabliert haben, um weiter ungestört von einem Service sprechen zu können, den sie aus Kostengründen nicht bieten wollen. Dienstleistungen bestehen natürlich zu einem großen Teil aus Kommunikation. Wie das Wort sagt, ist Dienstleistung eben ein Dienst, ein Akt der Unterwerfung, der als Teil einer Geschäftsbeziehung erbracht wird und auch da, wo ein Dienst erbracht wird, da ist Respekt ein wesentliches Element der Kommunikation. Andernfalls vermengen sich Dienst, Pfusch und Sklaverei. Die Vernetzung im Zwischenmenschlichen ist komplex. Das Individuum dient nicht gern. Sich unterwerfen sollen die anderen. Kein Stück weicht man zurück, wenn es nicht wirklich sein muss. Die ankommenden Reisenden können kaum den Zug verlassen, so voll ist der Bahnsteig und alles drängt den offenen Türen entgegen. Dicht bepackt. Mit Rollkoffern, Plastiktüten und Tageszeitungen. Man telephoniert mit sich selbst. Gewirr aus Tautologie und Redundanz, weil, wenn du kein iPhone hast, dann hast du kein iPhone. Meinungen drängen sich durcheinander. Überall Schlagzeilen und Statements. Seit Fukushima sind der Atomausstieg und seine Symbole überall. Die arabische Welt revoltiert, die NATO bombardiert Libyen. EHEC-Angst und Schnellfressladen: Ich liebe es. Man drängt sich lieber weiter vor offenen Türen, kann kaum einsteigen, da man nicht daran denkt, zuerst aussteigen zu lassen. Schöner Stillstand.

Ein Doppelstockwagen mit Hocheinstieg. Bereits im Zwischenstock, direkt hinter den breiten Türen, kauern sie auf ihren Koffern. Ich nehme trotzdem die Treppe und sehe sogleich einen freien Platz. Zwei Frauen sitzen einander gegenüber, ein einzelner Sitz, direkt an der Treppe, dem gegenüber eine der gewöhnlichen Doppelbänke. Die Damen sitzen am Fenster, schauen hinaus, über einen grauen Bahnhof, durch dem Abbruch geweihte Hallen. „Ist hier noch frei?“, frage ich, statt Fakten zu schaffen, mich breit zu machen. „Nein!“, antwortet eine der beiden Frauen, „wir wollen den Hund da hinstellen.“ Sie deutet auf die kleine schwarze Reisetasche auf ihrem Schoß, aus der ein neugieriger Chihuahua in die Runde blinzelt. Der helle Hund leuchtet geradezu aus der Tasche. Früher wollte kein Mensch ein schwarzes Auto fahren, denke ich, wegen der Hitze. Taxis waren damals verordnet schwarz. Leichenwagen, scherzte man. Dann stritten die Taxifahrer für eine andere Farbe und sie bekamen beige. Heute gibt es Klimaanlagen, der Druck der Hitze von einst, er ist modern unterkühlter Schick, ein energieintensiver Hype, natürlich mit Zentralverriegelung; das klingt nach Knast.

Sie macht keine Anstalten, die Tasche auf den Sitz zu stellen. Die Sache scheint noch nicht ausdiskutiert.

[…]


Lichtwolf Nr. 35

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