„Sprachverfall“? lol! Neuanfang!

Das Deutsche könnte so sauber sein, wenn es nicht jeder in den Mund nähme. Aber öffentlich ist nicht herrenlos! Wirtschaft, Politik und Medien bestimmen, was unter welchem Namen auf die Agenda kommt, und eine Kolonne freischaffender Sprachpfleger schaut, dass sie bei ihren Operationen keine hässlichen Schnitzer machen. Doch Sprache ist kein Patient und kein Modellbaukasten, eher eine große alte Stadt mit viel Spekulation und wenigen Hausbesetzern.

von Marc Hieronimus, 20.09.2011, 10:41 Uhr (Neues Zeitalter)

Wohliger Schauer? Faszinierter Ekel? Kopfschüttelkrampf? Wer sich nach langer Zeit einmal wieder wacher Sinne vor einem angeschalteten „Fernsehgerät“ aufhält, droht etwas zu erleben, das an den Schock des aus seiner Klause in den Busch gezogenen Missionars heranreicht. Überzeugt von der Richtigkeit der in der Stille gefundenen Weisheit, bereit zu großen Taten und Veränderungen und bestrebt, wenigstens ein paar Schäflein durch das gute eigene Beispiel und durch unaufdringliche Gesprächsangebote auf den rechten Weg zu bringen, sieht man sich plötzlich mit Schrumpfköpfen, Insektenessern und wild bemalten Tänzern konfrontiert, lauter Bräuchen und Ritualen, die in ihrer Fremdheit nur den denkbar unvoreingenommenen Zivilisierten noch Anklänge an die gemeinsame Herkunft entdecken lassen. Große Kinder! Und wie die reden! Höchste Zeit, dass da mal durchregiert wird!

Aber nein. Der Turm oder Bunker, der wirksam gegen das Flächenbombardement des Medienzirkus schützte, muss erst erfunden werden, gemeinsam mit den VergAll-(Vergiss-alles)-Pillen, die Daniel Düsentrieb nimmt, um sich nicht mehr an seine Erfindungen für Phantomias alias Donald Duck zu erinnern. Jede Zeit hat die Kultur und Sprache, die sie verdient, und zwar in einem ganz banalen Sinne: Anders wäre alles anders, alles hängt zusammen. Wer mit der Axt der Vernunft loszieht, im Dschungel einen Geistestempel zu errichten, wird erleben, dass die Wilden ihn entweihen und mit ihren eigenen Dingen füllen, wenn sie den Förster nicht gleich fressen. Wer in unserer Welt eine Idee hat, wie es besser ginge (und wie überhaupt die Dinge laufen), braucht, um sich Gehör zu verschaffen, entweder die Macht über alle Medienkanäle inklusive Internet, zuzüglich einiger Armeen mit ABC-Waffenarsenal (ein paar Milliarden werden nicht zuhören wollen/dürfen), oder andernfalls ein gerüttelt Maß Geduld. Das wichtigste Mittel des sich kulturell unbehaglich Fühlenden zur Veränderung der Zustände ist die Sprache. Leider sind auf diesem seinem ureigensten Feld zahlreiche Mitstreiter am Werk, deren Eifer auf andere Ziele gerichtet ist.

Da sind zum einen die bloßen Erbsenzähler oder Korinthenkacker (frz.: Fliegenficker), wahre Koniferen auf ihrem Gebiet, die sich die Syphilisarbeit machen, die Verfehlungen ihrer meist angeseheneren, einflussreicheren Kollegen zu verfolgen. „Kaltet die deutsche Sprache sauer“, hieß das in den 70ern in einem Otto-Waalkes-Sketch, und heute eben, je nach Standpunkt, „der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“ bzw. „der Genitiv ist dem Streber sein Sex“. (1) Nun, sie haben Recht. Erbsen, Korinthen, Fliegen wollen gezählt, gekackt, gevögelt werden. Das ist noch nicht-entfremdete Arbeit, die Spaß macht und nicht zu viele Kalorien hat. Es wird so viel gequasselt in den Medien, dass ein sauber formulierter Satz mit Genitiv und altem e-Dativ dem gebildeten Manne eines verhaltenen Freudenschreies durchaus würdig scheint (die Frau hat keinen alten Dativ und kümmert sich im allgemeinen, doch das mag Zufall sein, auch weniger um den vermeintlichen Sprachverfall). (2)

Michael Helming: Raben auf TV-Antenne

Photo: Michael Helming

Es geht auch gegen die Anglizismen. Gut so, die versteht nicht jeder. Die Werbe-, Wirtschafts-, Medienfutzis schon, halbwegs, aber die sind halt keine Übersetzer, darum kauen sie sie wieder und kommen sich dabei noch reichlich cool und smart vor. Das sprachwissenschaftlich Interessante ist nun, dass die Sprachgemeinschaft (oder gar die Sprache selbst) die ärgsten Fremdkörper von selbst abstößt. Computer heißen heute Rechner, und statt downzuloaden lädt man längst schon runter, ohne dass sich, wie in Frankreich oder Island, eine eigens eingerichtete Akademie die Neuprägungen überlegen müsste. Und was man mangels Lehnübersetzung übernimmt, wird eingedeutscht bis zur Unkenntlichkeit: Wer würde noch den Wein umbenennen wollen, weil er lateinischen (vinum) und eben nicht germanischen Ursprungs ist (wo es nur Met gibt, der aber eben etwas anderes ist) – und derartige Beispiele sind Legion?! Dieselben Zähler, Kacker usw. wissen darum und erzählen bei aller Kleinlichkeit und Besserwisserei auch manche drollige und erhellende Wortgeschichte. Lassen wir sie.

Auf nicht unbedingt höherer, aber anders interessierter Bildungsebene gibt es zweitens eine rege Diskussion über die schrumpfende Bedeutung der deutschen Sprache im „internationalen Wettbewerb“. Das deutsche Außenministerium finanziert über den DAAD und das Goethe-Institut zahlreiche Förderprogramme, die das Deutsche als Welt- und Wissenschaftssprache erhalten sollen. Auf der anderen Seite werden immer mehr Studiengänge auf Englisch angeboten, in den Gentry-Vierteln deutscher Großstädte wuchern englischsprachige Krippen und International Schools, und auch die höher gebildeten Deutschen mit Migrationshintergrund beginnen sich zu fragen, ob sie bei Goethe-Schiller (oder wer derzeit deren Platz einnimmt) nicht auf die falschen Pferde setzen. Das leuchtet jedem ein, warum auch immer.

Ein vergleichsweise wenig beachtetes Phänomen ist drittens der grammatische und morphologische Sprachverfall. Die diachrone Sprachwissenschaft zeigt allerorts Sprachwandel in Form von Angleichung und Verarmung auf; die Fälle werden weniger, die Endungen verschleifen, Vokale werden „harmonisch“ oder zum „Schwa“ (das -e in Hase) reduziert, Wörter und Formen verlieren an konkreter Bedeutung. Man vergleiche Alt- mit Neuhochdeutsch, Latein mit irgendeiner der romanischen Sprachen, oder schaue sich, nur zum Spaß, den Formenreichtum einer „jungen“ nicht-indoeuropäischen Sprache wie z.B. Türkisch an. Wie alles andere folgen offenbar auch Sprachen dem Zweiten Satz der Thermodynamik und streben nach Entropie. Müssen sie also über kurz oder lang den „Wärmetod“ sterben, werden unsere Nachfahren nur noch lallen können? Manchmal hat man den Eindruck, wir sind gar nicht mehr weit davon entfernt… Nun gibt es ja (fast) immer das Rettende auch, nämlich Evolution, d.h. Mutation und Anpassung durch Druck und Zug innerer und äußerer Umstände. Irgendwann, vielleicht jetzt gerade, im Moment, kommt etwas Neues – aber was soll das sein, und wie entsteht es? Wer erfindet einen Aorist oder einen Äquativ, also neue Formen und neue Bedeutung? Und ist das je beobachtet worden? Ein Wunder, dass sich die Gläubigen der Schöpfungslehre 2.0 namens Intelligent Design die Angelegenheit nicht längst argumentativ zunutze gemacht haben. (3)

[…]

(1) Von Bastian Sicks KiWi-Buch ist mittlerweile die dritte Folge erschienen; Markus Barths Umwertung des Genitivs gibt es bei Rowohlt.

(2) Die Genealogie der deutschen Sprachpfleger ist freilich wenig rühmlich, vgl. den Werbe-Artikel ab S. 35.

(3) Die morphologische bzw. silbenphonologische „Verschlechterung“ des Deutschen erklärt sich zum größten Teil durch seinen Wandel von einer Silben- zu einer Wortsprache. Die derzeit wohl beste Einführung ins Thema ist Nübling, Damaris et.all.: Historische Sprachwissenschaft des Deutschen. Eine Einführung in die Prinzipien des Sprachwandels. Tübingen: Narr 32010. Dort gibt es auch einige (tastende) Antworten auf die Frage, wie denn wohl Neues entsteht bzw. entstanden ist. Es scheint wie mit dem „Ursprung der Arten“ zu sein – es gibt keinen. Alles fließt. Und sprachliche Bifurkationen und andere Ausdifferenzierungen sind mangels Tonbandaufnahmen noch schwerer zu erklären oder gar vorherzusagen als die gewundenen Wege der Biologie, wo es trotz aller strukturell bedingt nie auszumerzenden missing links doch immer wieder zu bemerkenswerten Funden kommt. Darüber hinaus hat schon Jacob Grimm bei der Beschäftigung mit den zwei deutschen Lautverschiebungen aufgezeigt, dass Sprachen sich „verlorene“ Elemente oft an anderer Stelle wieder zurückholen.


Lichtwolf Nr. 35

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