Die Grenzen der Insel

Ein Ausflugsrapport aus Vancouver Island über gefährliche Tiere, kühle Regenwälder und gestundete Zeiten im fernen kanadischen Westen

von Vasile V. Poenaru, 20.06.2011, 14:24 Uhr (Neues Zeitalter)

 

Vancouver Island ist ein bisschen größer als die Schweiz, aber ein bisschen kleiner als Österreich. Auf der etwa 460 Kilometer langen und 50 bis 130 Kilometer breiten Insel leben eine halbe Million Menschen, die wegen des milden Klimas und der unwahrscheinlichen Landschaft, die sie tagtäglich genießen dürfen, von den restlichen dreißig Millionen Kanadiern besonders in den langen Wintermonaten durch und durch beneidet werden. Aber freilich halten sich da nebenbei schon aus rein politisch-geographischen Gründen auch viele wohlhabende Amerikaner auf (darunter erfolgreiche Schauspieler und erfolglose Bankiers), deren Grundstücke auf der Insel den idealen Schlupfwinkel bieten – wer kann es ihnen verdenken? Die werden doppelt beneidet: nördlich wie südlich der Grenze.

Hat einer ein Millionenhaus, so heißt es: „He’s worth a million.“ (Er ist eine Million Dollar wert.) Hat einer ein Flugzeug, so kann er eigenmächtig über die wässrigen Grenzen der Insel hinwegsetzen, wann immer er will. Kaum je sind Gut und Haben sonstwo derartig befriedigend aufeinander getroffen. Sein und Sollen, Mögen und Möchten, Müssen und Wollen bringt man hier ausnahmsweise mal ganz problemlos unter denselben Hut. In einer prächtigen Umgebung philosophiert es sich auch besser. Das ergibt dann ein entsprechend rundliches Gefühl der Vervollkommnung, obwohl die Insel ja offensichtlich gar nicht rund ist, sondern sich vom Süden in den Norden hinauf zieht. Alle Gedankenzüge scheinen hier irgendwie abwegig zu sein. Die wässrigen Umrisse der Begriffe erschweren jedwelche terminologische Verbindlichkeit. Kein Rahmen wird gesprengt; es gibt keinen Rahmen.

 

Faul (oder eben bloß in seinen erbaulichen Tagträumen vertieft) in der Sonne liegen, den Regenschirm weit weg, den Blick in die Unendlichkeit. Wer will das nicht? Ein Leben Arbeit, und dann ein Leben Rente. Frische Luft und/oder Marihuana. Liberale Gesetze. Jogging. Müßiggang. Tugenden und Laster. Authentische und fingierte Empfindungen. Neubeginn. Weitermachen. Freedom 55 (mit 55 in Rente gehen). Was immer. Jeder nach seiner Art. Oder alle durcheinander. Kalifornien ist in diesem Sinne allerdings auch kein Fehler. Und doch kommen die Leute oft genug sogar von dort immer wieder rauf auf die Insel. The Island, das klingt nämlich so unwiderstehlich verführerisch und gemütlich, dass einen gleich die heftigste Einbildungskraft belebt, sobald das Wort fällt. The Island ist dabei aber freilich nicht irgendeine Insel, sondern eben The Island: Vancouver Island.

Inselbewohner sein: ein Ding für sich. Ein Ding für die Phantasie. Ein Ding für die Muschel am Ohr. Realistisch kann dieses Gebiet des unbegrenzten Entspannungspotentials im fernen kanadischen Westen sowieso kaum beschrieben werden. Schlaraffenland ist nämlich eine literarische Erfindung. Aber nicht Vancouver Island. Hier befindet sich die stimmungsvolle Hauptstadt von British Columbia: Victoria. Hier grünt’s nicht nur zur Sommerszeit. Hier gibt es wirkliche Regenwälder – die sind nicht so heiß wie diejenigen in den Tropen, aber immerhin regelrechte Regenwälder. Uralt. Riesengroß. Bildschön.

Es fehlt nicht mehr viel bis zum Ende der Welt. Der Pazifische Ozean plätschert spielerisch am Strand. Eine irgendwie eigenartige Distanz zu den Dingen wird gewonnen, wenngleich man sie ja strenggenommen gar nicht recht anstrebt. Aufschlussreiche Perspektiven der Zusammengehörigkeit von Mensch und Ort rücken näher, wiewohl sie nicht immer in sich schlüssig sind. Das Festland denkt man sich irgendwo hinter den riesigen Wäldern, es macht aber trotz seiner recht kategorisch umrissenen Bezeichnung gar keinen so festen Begriff aus. Eine Brücke zum Kontinent gibt es nicht. Und auch keinen Tunnel. Doch die zwei Stunden auf dem Ferryboat sind ihr Geld wert. Es geht an prächtigen Inseln vorbei (die wir zur Abhebung gegen die eine, hiermit umschriebene große Insel der Einfachheit zuliebe gerne „Kleininseln“ nennen wollen). Man kann sich nicht sattsehen. Es geht an einer weit ausholenden Frage vorbei: Wem gehört der Augenblick, in dem man sich ein Bild von der Ewigkeit macht? Wem gehört die Ansicht auf der Ansichtskarte? Der Übergang vom Schönen zum Erhabenen vollzieht sich mit einer ermesslichen Geschwindigkeit (soundsoviele Stundenkilometer, nein, Knoten) – die Georgia Strait ist nicht von ungefähr ein intensiv befahrener Wasserweg. Von der unermesslichen Geschwindigkeit des Perspektivenwechsels an der Grenze der Sinne kann auch noch was gesagt werden.

 

Jetzt einmal politisch. Vancouver Island gehört zu Vancouver, das heißt, zu British Columbia, genauer gesagt zu Kanada. Und doch: Die Leute auf der Insel scheinen manchmal sozusagen nirgendwo hinzugehören, oder eben überall hin. Man lebt hier weit weg vom Tummel des Kontinents, weit weg vom Alltag und schon gar von der sogenannten sachlich geregelten Tagesordnung, ja fast würde einer sagen, man lebt hier weit weg von sich selbst und von seinen althergebrachten Wertigkeiten – nur ist das Selbst ja in Kanada sowieso an sich bekanntlich nirgends zu Hause, weil das Es überall waltet.

Die zentrale Regierung verliert ihre Relevanz, ihre Eigentlichkeit, ihre Glaubwürdigkeit im dezentralisierten Regierungsgebiet. Wird schon in Saskatchewan und Alberta oft genug von Western Alienation gesprochen, so lassen diese Traumerscheinungen am Rande des Pazifischen Ozeans oder inmitten der Riesenwälder mit touristischer Anziehungskraft leicht Gedankenzüge und Regungen mitspielen, die, wenn schon keine Entfremdung, so doch wohl eine wahrhafte Entrückung der Anschauungen ausmachen, die ein jeder mit sich trägt. Anders als in Québec will hier zwar niemand aus dem Bund heraus treten, nur ist der Bund eben gewissermaßen eher lose. We are different, heißt es. Erläuterungen folgen selten. Und auf den Nummernschildern der Autos steht einfach: Beautiful British Columbia.

Atemberaubend wegweisend. Zwingend erquickend dünkt dieses überwältigende Reich der malerischen Abgelegenheit. Man möchte sich hier zurückziehen, um ein Buch zu schreiben: um denkbar grundlegende Zusammenhänge im Sinn reifen zu lassen, oder eben in aller Ruhe die Freiheit der Assoziationen zu genießen, die in der Wildnis wachgerufen werden. Man möchte im Schatten der Insel ein bisschen die Aneignung von überschüssiger Lebendigkeit üben, ein bisschen Sorglosigkeit und Glück über sich ergehen lassen. Im Echo der Wellen den Rhythmus exotischer Daseinssphären empfinden oder mit kritischem Geist durch die Zeitgeschichte surfen, um den Sinn der Geschehnisse auszumachen, die nur stückweise wie per Flaschenpost bekannt gemacht werden. Eine Kolonie möchte man gründen, wäre sie nicht schon längst gegründet worden. Ein herrliches Anwesen kaufen: Die Idee kommt auch in den Sinn. Was ist ein Millionenhaus heutzutage hierzulande in der Abgelegenheit noch wert? Haben die Amis den Markt versaut? Es wird spät. Doch es fällt schwer, davon Notiz zu nehmen.

Die Jahreszeiten bleiben hier gleichsam hängen, damit man sich je nach Geschmack oder Zweckmäßigkeit bedient. Wenn im Dezember landesweit der Schneesturm tobt und die Straßen zerlöchert werden, ziehen sich die verwöhntesten Kanadier bisweilen Kurzhosen an. Es kann sich ein jeder den ganzen lieben Tag so viel Frühling holen, wie ihm angenehm ist. Oder aber auch Winter. Denn wie Österreich und die Schweiz hat auch Vancouver Island sein Relief. Die Berge sind über viertausend Meter hoch und am Fuße dicht bewäldert. Auf dem Pfad: Warnschilder. „Achtung! Bären!“ Angst braucht man keine zu haben. Die Bären greifen nämlich immerhin prinzipiell keine Menschen an. Wenn sie es aber trotzdem tun, soll man sich zur Wehr setzen, steht da noch am unteren Ende der Warnschilder wie beiläufig geschrieben. Auf Vancouver Island gibt es allerdings keine Grizzlies, sondern nur Schwarzbären, die freilich auch Tatzen haben. Und Himbeeren. Und Blaubeeren. Die Grizzlies halten sich bekanntlich lieber drüben in den Rockies auf, vor allem, weil ihnen das Ferryboat zu umständlich ist. Und außerdem sind sie keine Islander.

Wie dem auch sei: If you are attacked, fight back. Das hört sich schon fast wie eine jener Terror-Warnungen im amerikanischen Fernsehen an, die beruhigenderweise in der Regel immer bald von Terror-Entwarnungen abgelöst werden. Nicht so hier. Es hat einer stets auf der Hut zu sein. Keine Entwarnung. Und Bären lesen nicht. Sonst würden sie ja wissen, dass sie prinzipiell nie Menschen angreifen.

Es passiert jedoch zum Glück nichts. Oder besser gesagt, es passiert nichts extrem Schlimmes. Die einzigen Lebewesen, die aggressiv werden, sind Hunde, bezeichnenderweise keine streunenden, sondern durchaus ordnungsgemäße, wenn sie auch nicht ordnungsgemäß an der Leine gehalten werden, was ja strenggenommen eher auf eine Aggressivität der Besitzer schließen lässt, und nicht auf eine Aggressivität der Hunde. Ein bisschen Aufregung, und schon ist man über den Berg. Ansonsten befinden sich allerdings nur wenige Personen auf dem Pfad. (Wurden die anderen aufgefressen?)

Vancouver

(Quelle: Nikater, Wikipedia, public domain)

Wenig ist uns bekannt von all dem, was sich früher mal hier tat. Auf jedem Stein hat vielleicht einmal jemand gelacht oder geweint oder geträumt und eine Beziehung zu höheren Wesen gepflegt. Oder vielleicht auch nicht. Ein Ort ohne Geschichte? Ohne Vorgeschichte? Oft genug wollen wir es gar nicht so genau wissen. Und doch liegen die fernen wie die nahen Zeiten bestimmt irgendwo in diesen Bergen, Schluchten, Tälern, Seen, Kliffen und sonstigen Wundern der Natur verstaut: auf Widerruf gestundet, wie der Dichter sagen würde, genauer gesagt, wie die Dichterin sagen würde.

Schon vor achttausend Jahren lebten Menschen auf der Insel, archäologische Funde bei Port Hardy belegen es. Bleichgesichter haben sich freilich bis vor kurzem nicht sehen lassen. Gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts kamen erste Kontakte zwischen Europäern (Spaniern und Engländern) und den lokalen Stämmen zustande. Nach einem kurzen Streit zwischen den anschlusslüsternen Kolonialmächten durften die Briten dann die Insel behalten. That’s why we speak English. Ein großes Imperium wurde noch größer. Und die Hauptstadt der schönsten kanadischen Provinz trägt sogar den Namen von Queen Victoria, die beinahe acht mal acht Jahre (von 1837 bis 1901) über ein Reich regierte, in dem es ununterbrochen Tageslicht gab – sehr gesund für die Augen.

Die bestmöglichen Straßen der bestmöglichen Insel führen das Auto im Nu überall hin. Von Victoria mit seinem detailreich kunstvoll brav anmutenden viktorianischen Provinzparlament und seinen berüchtigten Ghost-Tours und dem ältesten Chinatown in Kanada über Port Alberni bis Tofino oder rauf in den bezaubernden Strathcona Park oder einfach nur so herum von der einen Küste zur anderen. Großzügig wartet das Angebot auf den Verbraucher. Nie wird die Fahrt beschwerlich – mit einer Ausnahme: Die Straße nach Port Renfrew ist holprig. Eigentlich ein echtes Bravourstück für den verwöhnten Kanada-Fahrer. Imbiss in Victoria, spätes Mittagessen in Port Renfrew, so der Essplan, den wir morgens ausgeklügelt hatten. Dort erwarten uns exotische Leckerbissen aus fernen Inseln – die werden auf schwerbeladenen Frachtschiffen über die See befördert. Denken wir. Denn was kann lukrativer klingen als ein Hafen am Pazifischen Ozean? Allerdings wird die Straße bald noch holpriger. Ein dumpfes Vorgefühl macht sich breit. Fast will uns sogar das Wasser im Mund nicht mehr richtig zusammenlaufen. Einen regen Verkehr gibt es hier wohl nie.

Von der ersehnten Fracht für Gaumenfreunde ist dann in Port Renfrew leider nichts zu sehen. Der Hafen wirkt öde und verlassen. Im einzigen Kaufhaus beschränkt sich das Angebot auf ein paar wenige Produkte – darunter nichts Frisches.

„Wenn Sie was brauchen, fahren Sie einfach nach Victoria“, ermutigt uns die Verkäuferin. „Wir kommen aus Victoria“, brumme ich so freundlich es immer auch nur geht. „Die Fahrt dauerte ein paar gute Stunden.“

„Ach, Sie kommen aus Victoria! Großartig! Dann haben Sie ja bestimmt schon alles, was Sie brauchen!“ Ein preiswertes Restaurant kann sie uns schließlich empfehlen. Es ist das einzige weit und breit. Und wir die einzigen Gäste. Vorsichtshalber steige ich erst mal allein aus. Ein keineswegs wohlgelaunter Hund versperrt den Weg. Zum Glück ist er angekettet, nur muss man leider unmittelbar an ihm vorbeigehen, um zu den Tischen zu gelangen. (Waren das überhaupt Tische?) „Shut up, Nimrod!“, brüllt jemand. „Go ahead, it’s okay“, raunt er mir dann noch wie im Vertrauen zu, so, als sei er etwa ein wohlwollender Schutz-engel, der allerdings von Kundenfreundlichkeit nie gehört hat. Weil Nimrod aber immer noch gar nicht so wohlwollend aussieht, fasse ich kurzerhand den Entschluss, lieber den Weg zurück zum Auto einzuschlagen, was mir auch ausgezeichnet glückt. Wir sind zwar nicht satt, doch jedenfalls unversehrt. Nichts wie weg von hier!

Nachdem einer vor der zähneknirschenden Wirklichkeit der unwirtlichen Hafensiedlung Reißaus nimmt, bleibt trotz enttäuschter kulinarischer Erwartungen immerhin noch der romantisch gefärbte Rückweg in die Marginalien der Phantasie übrig. In den ewigen Jagdgründen wird viel gejagt. Ethische Erörtung: Was tun? Was würde der Bürgermeister von Sylt tun? Oder gar der Bürgermeister von Wien? Denn Wien hat jetzt ja auch seine Insel.

Was würde Robinson Crusoe tun? Wie viele Wörter gibt es für Insel? Wo beginnt man Dimensionen der Innerlichkeit zu messen? Vor uns Gegend. Hinter uns Gegend. Überall Gegend. Es gibt auf diesen von Salzwasser begrenzten Jagdgründen jedenfalls genug Essbares, man muss nur spürsinnig genug sein, um es aufzutreiben. Und die köstlichsten Abenteuer warten in bunten Haufen vor der Tür. Auf dem Land miauen große exotische Katzen im Busch und freuen sich auf eine große exotische Maus. Sticht man in See, so wedeln Wale mit dem Schwanz und bringen tonnenweise Wasser in Bewegung. Die Wale sind freilich mittlerweile schlafen gegangen. Denn jetzt ist Winter. Sonst gibt es ja immer die Whale Watching Tours, wo man ganz nass werden darf, wenn man zahlt. Die freundlichen Orcas, auch Killer Whales genannt, sind ja gar keine Killer – gesetzt, dass es ihnen nicht allzu langweilig wird. Ganz im Gegenteil empfinden sie sogar so etwas wie eine Wärme des Herzen, wenn sie zwischen den unruhigen Wellen des Pazifischen Ozeans in die nahe Zukunft spähen. Nur in der Nacht wird es ziemlich kühl. Und ein paar Wochen später soll es sogar schneien. Aber das gehört nicht zur Sache. Bald wird die Sonne wieder aufgehen und aus den vier Winden eine Handvoll Ewigkeit für uns eintreiben. In Reichweite: zehntausend Gründe, sich beneiden zu lassen. Nun gut, zugegeben: Es gibt in Nordamerika nirgends mehr Niederschlag als im westlichen Teil der großen Landschaft bei Vancouver.

 


Lichtwolf Nr. 34

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