Die Argumentationsmuster der Geisteswissenschaft

Die Geisteswissenschaften beeindrucken durch rationale Argumentation. Doch was ist rational? Wie argumentieren die Geisteswissenschaften, um überzeugend zu wirken? Mit diesen Fragen beschäftigt sich der vierte Teil der Essay-Reihe zu den Geisteswissenschaften.

von Stefan Schulze Beiering, 20.06.2011, 20:13 Uhr (Neues Zeitalter)

Argumente haben einen guten Ruf. Man muss halbwegs tief in der Philosophie graben oder in die Dandy-Literatur ausweichen, um abweichenden Meinungen zu begegnen. Oscar Wilde sagt: „Das einzig Konsequente an mir ist meine ewige Inkonsequenz.“

Ohne Verstandesappell findet sich auch das Geschmacksurteil. Im Bohlen-Jargon hört sich das so an: „Nä, find ich blöd!“ Oder: „Voll geil!“

Diese private Enklave ändert aber nichts am bei uns vorherrschenden Sinnverständnis, am Logos, mit dem wir gerne alles erklären und in Einklang bringen. Bei uns ist das am meisten anerkannte Argumentationsmuster das der Widerspruchsfreiheit, positiv ausgedrückt, das der Schlüssigkeit. Es herrscht Begründungszwang.

Man glaubt zum Beispiel, man müsse den Kindern alles erklären, anstatt einfach zu machen. Beim Zahnarzt kann der narkotisierte Patient per Spiegel oder Kamera in seinen Wurzelkanal schauen, um die Behandlung nachzuvollziehen. In der Schule gibt der Rechenweg Punkte, nicht nur das Ergebnis. Allgemein gesehen fühlen wir uns der Aufklärung verpflichtet, die die Bedingungen unseres Daseins erhellte.

Die Werbeindustrie, eigentlich der klassische Fall von Gegenaufklärung, hat längst das Argument für sich eingenommen, denn wir wollen Begründungen hören, egal wie gelogen. Und im Parlament werfen sich die Abgeordneten bisweilen Scheinargumente an den Kopf und unterstellen sich gegenseitig zu fälschen. Egal, könnte man denken, denn die Entscheidung fällt im Ausschuss oder in der Regierung.

Argumentation soll ja eigentlich Sinn machen, Sinn schöpfen und so überzeugen und der schwankenden Meinung Halt geben. Dafür gibt es mehrere mögliche Bezugspunkte, an denen Argumente anknüpfen können, am einfachsten ist dies die Sache an sich: Feiertage sind zum Feiern da!

Andere Bezugspunkte sind der Mensch und die Gesellschaft, die Gesellschaft in Gesetzen und moralischen Vereinbarungen, wie: Das ist verboten! Oder: Das tut man nicht! Dabei ist uns nicht immer bewusst, dass auch die Weltanschauung einen starken Bezugspunkt für Argumente abgibt.

Deutlich wird das heute an der Auseinandersetzung mit fundamentalistischen Bewegungen wie im Islam oder im evangelikalen Christentum in den USA, die beide jeweils mit ihren heiligen Schriften argumentieren. So hat der Kreationismus keineswegs ausgedient und der Darwinismus erweist sich als Argumentationsform einer Weltanschauung, die sich aufgeklärt nennt, die sich aber vielleicht nur auf andere Glaubenssätze bezieht.

In der Geisteswissenschaft heißt die übergeordnete Weltanschauung Rationalismus, wobei das Wort vielleicht noch zu schwach ist, denn die Geisteswissenschaft frönt einem radikalen Nur-Rationalismus, wie sich in ihren Argumentationsmustern zeigt. Voraussetzung ist die Vorstellung der Aufklärung, der Mensch könne Sinn erkennen und in dieser Tätigkeit fortschreiten. Der Erkenntnisprozess könne nach Vorgaben geleitet werden und er sei bewusst nachvollziehbar und damit überprüfbar. Urvater dieser Anschauung ist René Descartes.

Descartes ging munter davon aus, die Wirklichkeit mit Hilfe seiner rationalen Methode zu entschlüsseln, aber Immanuel Kant gab den mäkelnden Pedanten und schränkte die Möglichkeiten rationaler Philosophie ein: Auf das menschliche Erkenntnisvermögen, das sich seiner Vorgaben bewusst werden müsse. Somit stehen alle vernünftigen Aussagen unter Vorgabe der human-intellektuellen Bedingungen.

Auf der Basis dieser Bedingungen vereinbarte die Geisteswissenschaft eine rationale Methode, um fachliches Wissen zu erschließen. Ein wissenschaftliches Gebäude entstand und soll immer weiter ausgebaut werden.

Der Glaube an die wissenschaftliche Konstruktion steht seither der Wirklichkeit gegenüber, die ihrerseits ihren Sinn, ihre Erkennbarkeit, ihre Ordnung verloren hat. Die Geisteswissenschaft hat eine Sinnverschiebung vorgenommen, weg von der Wirklichkeit, hin zum Modell.

Das Thema der Geisteswissenschaft sind nun Geist und Sprache, deren Sinn sie aus der Wirklichkeit abzieht und in ihrer Sphäre neu konstruiert. Der menschliche Geist wird dabei zum wissenschaftlichen Arbeiten, die Sprache zur verschachtelten Nominalkonstruktion. Geist und Sprache werden auf ihre schriftliche Erscheinung verlagert, sodass der empfundene Sinn und die mündliche Sprache, die die natürliche Umgebung des Menschen sind, ins Hintertreffen geraten.

Die Geisteswissenschaft weiß, dass sie nur Modellbau betreibt, hält das aber für das Beste. Ihre Aussagen gelten also nicht als wahr, doch bieten sie, auf der Grundlage der Erkenntnistheorie Kants, die bestmögliche Form der Wahrheit, das ist die Wahrscheinlichkeit oder die intersubjektive Perspektive der Forschergemeinschaft. Wissenschaftliche Konstruktionen heben sich somit vom gewöhnlichen menschlichen Geist ab, der durch Subjektivität, Für-wahr-halten und Emotionen verwirrt sei.

Desgleichen tut die Geisteswissenschaft die gewöhnliche Sprache als eine pöbelhafte oder faschistoide Kommunikationsform ab, denn diese sei irrational, metaphorisch verbogen und per se unklar. Sie sei durch umgangssprachliche und politische Phrasierungen vermint, sodass man in Normalsprache nicht kritisch denken könne. Gesinnungen und Vorurteile prägten einen normativ. Intellektuell redlich arbeite man nur in Mustern der Geisteswissenschaft. Alles andere sei blindes Umhertappen, bestenfalls Dichtung, meistens private Wäsche.

Bild: Paolo Veronese, „Aracne o la Dialettica“ (1520), Quelle: Wikipedia

Bild: Paolo Veronese, „Aracne o la Dialettica“ (1520), Quelle: Wikipedia

Diese Ansichten zur Wirklichkeit und zur reinigenden Funktion der Geisteswissenschaft werden vielfach wiederholt und beschworen. Sie bilden die Grundform für Argumentationsmuster, die sich darauf abbilden lassen und gleichfalls zum Inventar gehören.

Eines dieser Argumentationsmuster ist das mathematische Kalkül, das schon Kant bewunderte. Das mathematische Vorbild schlägt sich in der Bezifferung der wissenschaftlichen Gliederung nieder, weil Zahlen logisch überzeugend wirken und eine anscheinend konsequente und akribische Beweisführung markieren. Vorgemacht hat das Wittgenstein in seinem berühmten Tractatus logico-philosophicus. Er wird in jeder Seminararbeit kopiert: 1.1, 1.1.1, 1.1.2, 1.2.1, 1.2.1.1 usw.

Das mathematische Muster schlägt sich außerdem in formallogischen Betrachtungen nieder, im Bemühen, gedankliche Schlüsse mathematisch zu bezeichnen, indem man Variablen einführt, so als ob Gedankengänge Rechenoperationen wären und man gleichsam die treffende Aussage errechnen oder Irrtümer als Fehler in der Kalkulation rot anstreichen könne.

Das mathematische Kalkül hat auch eine geometrische Seite, bei der das graphische Modell, die Schemazeichnung in den Vordergrund tritt und die Sprache zu übertreffen scheint, wenn es um logische Beziehungen geht. Graphische Schemata garantieren den Überblick über begriffliche Systeme, sie sind immer ein gutes wissenschaftliches Argument.

Ein weiteres wichtiges Argumentationsmuster ist das der Analyse. Die Analyse ist nach Descartes der zweite Schritt der Methode, um Wissen zu erlangen. Hier soll der größere Komplex an Problemen, den man sich vorgenommen hat, in bequeme Einzelteile zerlegt werden, die leicht beurteilt werden können.

Die Analyse hat seither vor allem in den Naturwissenschaften für Furore gesorgt und ist heute vor allem deshalb positiv besetzt. Wer Analyse behauptet, nimmt immer den Erfolg der Naturwissenschaften für sich in Anspruch.

Im gedanklichen Ansatz soll Analyse die Vorarbeit für die nachfolgende Rekonstruktion im Modell bieten, denn die Geisteswissenschaft will ja eigentlich logisch zusammenbauen, was die Welt versaut hat. Also muss der Strahl der Wirklichkeit durch die Wurst der Analyse gedreht werden. Bis zum Auflesen der geschredderten Einzelteile klappt das auch gut. Das neue Zusammenbauen gelingt schlechter, darum begnügt man sich in Ansätzen und Ausblicken, in vorläufigen Ergebnissen und Arbeitsberichten.

Man kündigt an, anstatt zum Ergebnis zu kommen. Man klopft sich auf die Schulter, denn man hat schon mal angefangen. Der Fortschritt der Wissenschaft wird das Weitere leisten. Man müsste noch Folgendes tun und überprüfen und hinzufügen, dann…

Das Manko wird flugs umformuliert und zu einem weiteren Argumentationsmuster. Die Geisteswissenschaft gibt sich als unabgeschlossener Prozess. Das ist eine Aufforderung fortzufahren, Neues zu entdecken, aber das Alte zu schätzen. Die Geisteswissenschaft nennt sich prinzipiell unabschließbar und man gefällt sich in der Pose, auf das Kommende zu verweisen, um die Dürftigkeit der gegenwärtigen Situation zu kaschieren.

Wenige Großkopfeten entwerfen nach der Analyse ein neues Modell, das ist aber nur ein Konstruktionsvorschlag. Neue Analysemittel werden in die Hand gelegt, um den neuen Konstruktionsvorschlag vorzubereiten. Da freut sich die Forschergeneration, man ist einen Schritt weiter! Jetzt muss der Neuansatz durchgeführt werden – bis ein wiederum neuer systematischer Ansatz den alten überholt und endlich Klarheit verheißt.

Zurzeit ist das Kuhnsche Paradigma in aller Munde. Vorher war es Poppers Falsifikationsmodell. Früher Max Webers Idealtypus. Was ist dabei herausgekommen? Tonnen bedrucktes Papier, Doktortitel, Arroganz und Dämlichkeit.

Ein drittes Muster der Argumentation – nach Mathematik und Analyse – ist das der Untersuchung. Die Untersuchung geht oft mit der Analyse einher, verdient aber eine eigene Kategorie, weil der Begriff in der Geisteswissenschaft so eine gesteigerte Rolle spielt. Untersuchungen gelten als Beleg. Sie liefern Fakten. Daten und Fakten sind das Credo des Rationalisten, also sind wir froh, welche zu bekommen. Untersuchungen sind ein Produktionsprozess für Fakten.

Dieses Argumentationsmuster hat sich weit in das Feuilleton der Zeitungen und in die Fachausschüsse der Politik vorgearbeitet. Neulich las ich einen Bericht in der Süddeutschen, wonach ein Forscher feststellte, dass bei gefüllter Blase, also mit Druck auf der Leitung, rationalere Entscheidungen gefällt werden als ohne. Er hatte einigen seiner Probanden Getränke verabreicht, wobei sie nicht aufs Klo durften, und ihnen Aufgaben zum Lösen vorgelegt. Ihre Ergebnisse waren besser als die Resultate derjenigen, die ohne körperliche Pein die Aufgaben bearbeiteten. Ergo: Blasendruck macht schlau!

Da ich Lehrer bin, habe ich nun ein blendendes Argument, die Schüler während des Unterrichts nicht zur Toilette gehen zu lassen, viel besser als das alte, dass der Unterricht gestört würde. Wie viel mehr Lernerfolg hätte ich bewirken können, wenn ich die letzen 15 Jahre den Toilettengang konsequent verboten hätte! Wie sehr könnte ich mich selbst motivieren und verbessern, indem ich mein Bedürfnis nach Entleerung unterdrücke?

Bei der Faktenproduktion der Untersuchungen kommt der Glaube an Objektivität ins Spiel, der das Thema meines vorigen Aufsatzes im Lichtwolf war. Der Versuchsprozess reinigt und klärt, was den Sinnen und dem darin befangenen Verstand verborgen bleibt.

Voraussetzung ist die Vorstellung, im Dunkel der Sinne existiere eine objektive Welt; ihre Struktur gilt es zu erforschen, zunächst zu erahnen mittels einer Annahme. Die Annahme muss überprüft werden, das führt zu einem Versuch; der Versuch führt zu einer Reaktion der objektiven Welt, die aus Daten besteht.

Die Geisteswissenschaft spricht darum in Thesen, die durch Daten gestützt werden müssen, anstelle von subjektiven Überzeugungen. Der beste wissenschaftliche Grund, das beste Argument ist die Sache, das Faktum, der messbare Ausschlag. Untersuchungsergebnisse sind Tatsachen, sie gelten als verifiziert. Der Forscher fasst zusammen, indem er sagt: Tatsächlich verhält sich – unter den gegebenen Umständen – die Sache so. Damit hat sich seine These als ertragreich erwiesen.

Zwar beweist die wissenschaftliche Datenproduktion eine These nicht so, dass sie abschließend gesichert wäre. Thesen gelangen nicht in den Rang von Wissen wie Daten. Die Daten geben jedoch einen Hinweis auf die Haltbarkeit der These, sodass diese vorläufig gilt.

Rhetorisch gesehen sind Untersuchungsergebnisse nur Beispiele, die eine Annahme, eine Meinung illustrieren. Immer illustrieren sie in der Geisteswissenschaft die Meinung, man könne erfolgreich analysieren; dazu bieten sie Phantasieprodukte oder Sinnrudimente an. Dabei muss man bedenken, dass geisteswissenschaftliche Untersuchungen ein doppeltes Maß an Verdünnung in sich tragen. Bereits die gewöhnliche Theorie oder das einfache Nachdenken ziehen sich aus der sinnlichen Wirklichkeit zurück. Sie unterliegen daher der Gefahr der Einbildung, weil die konkrete Bedingtheit fehlt; man wird nicht gleich durch die Umwelt relativiert und auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt.

In der Geisteswissenschaft denkt man nun auf einer Ebene noch weiter von der Wirklichkeit entfernt. Man beschäftigt sich mit der Theorie selbst, das Thema ist ja der Geist. Man denkt also nicht einfach über etwas nach, sondern man denkt über das Nachdenken nach.

Das ist extrem dünn, sehr abstrakt. Das gewöhnliche sinnhafte Denken will der äußerlichen Sinnlichkeit entgehen, das exklusive Untersuchungsdenken der Geisteswissenschaft will dem gewöhnlichen sinnhaften Denken entgehen und dabei Fakten liefern. Aber das sind Wesenheiten aus dem Nichts.

Ein viertes Argumentationsmuster ist das der Komplexität. Die Wissenschaft gilt als anspruchsvoll und wuchert mit diesem Pfund. Wissenschaftliche Forschung übersteigt das Einzelwissen, denn die Vielfalt der Fächer und der Fachrichtungen, die Anzahl der Publikationen sind überwältigend. Eine internationale Forschergemeinschaft diskutiert in Fachzeitschriften und auf Kongressen.

Die Ehrfurcht vor der Würde und Größe der Wissenschaft bestärkt den einzelnen Forscher. Auch er arbeitet mit, im großen Projekt der Aufklärung. Auch er wendet sich der Sache zu, der überindividuellen Aufgabe, der Herkulesarbeit des Auflesens und Zusammenfügens in einer riesigen wissenschaftlichen Welt.

Der Geisteswissenschaftler kniet sich in sein Fachgebiet und schreibt einen wissenschaftlichen Text dazu. So fügt er dem überwältigenden Komplex des Ganzen einen bewältigten Komplex des Kleinen hinzu und kann an die Beherrschung des Wissens glauben, denn er hat einen Baustein geliefert.

Ausdruck der Bewältigung des Komplexen ist die Fachsprache, der Schachtelsatz. Er zeichnet sich durch statische Konstruktion aus. Eingepackt und untergeordnet werden diverse Inhalte wie in ein Containersystem. Nicht die Lesbarkeit steht im Vordergrund, mithin nicht die Verständlichkeit. Sondern der komplexe Gehalt des Textes entscheidet über die Güte von Wissenschafts- sprache.

In feinen Abstufungen ergeht sich der Kenner. Er stemmt Lasten wie ein Berserker. Er entwirft Bauwerke wie Carl Friedrich Schinkel. Freilich sind es Luftschlösser, leere Kammern, blinde Verbindungsgänge. Oder überladene Waggons auf rostigen Schienen, die kein noch so befeuerter Geist ins Rollen bringt.

Anstatt eines illustrierenden Zitates, das zu gesucht erscheinen müsste, empfehle ich an dieser Stelle den Vater der Journalisten in Deutschland, Wolf Schneider. Seine Bücher zeigen Beispiele von in die Presse gerutschten Nominalsätzen im Schachtelstil, und ihre verbesserten Versionen in gutem Deutsch. Jede gymnasiale Oberstufenklausur zeigt ähnlich verschachtelte gestelzte Formulierungen, weil die Schüler diesen in wissenschaftlichen Texten begegnen und sie, als Nachweis von Intellektualität, übernehmen.

In der Geisteswissenschaft reicht aber nicht der manierierte Stil, um komplex zu erscheinen. Unter dem Text stehen weitere Anmerkungen wie ein Wurzelwerk, kleingedruckt, mit Literaturverweisen, Ergänzungen, Einschränkungen.

Die Anmerkungen markieren gemeinsam mit dem Literaturverzeichnis die vielfachen Verbindungen zur Gelehrtenwelt, sie weisen auf die relevanten Veröffentlichungen zum Thema hin. Anmerkungen fügen die eigene Arbeit in den allgemeinen Wissenschaftsprozess ein. Sie garantieren, dass der wissenschaftliche Text nur einen Faden im großen Gewebe darstellt, vielfach verschlungen und gehalten von anderen Fäden und der Spannung des ganzen Tuches.

Die Kehrseite der Komplexität ist die Kompliziertheit, also der Mangel an Einfachheit. Die Kehrseite ist auch die Unnatürlichkeit, die mangelnde Sinnfälligkeit für den nicht komplexen Leser, und das sind unausgebildet alle. Komplexität geht also mit einem elitär ausgebildeten Bewusstsein einher. Daher ist Arroganz die natürliche Begleiterscheinung aller Geisteswissenschaft.

Das fünfte und hier als letztes zu behandelnde Argumentationsmuster ist in gewisser Weise das Gegenteil des totalitäten Anspruchs auf die Gesamtheit des Wissens, das im Muster der Komplexität erscheint. Es ist das Muster der Einschränkung durch Relativität oder Neutralität.

Es ist Geisteswissenschaftlern natürlich, nur zu konstruieren. Sie bieten nur Modelle an, überlegen nur, versuchen nur nachzudenken. Die Relevanz dessen, was sie sagen, ist daher nicht genuin gesellschaftlich, Adorno zum Trotz. Es ist auch nicht den Werten des Grundgesetzes entsprungen, wenngleich von Habermas kompatibel gemacht.

Die Geisteswissenschaft stellt nur Thesen auf und prüft nur ihren Wert, sie analysiert nur, versucht nur logisch nach dem Vorbild der Mathematik vorzugehen, widmet sich nur der Komplexität der geistigen Welt. Ihre weltanschauliche Perspektive ist wandelbar, als Begründung reicht die Transparenz in wissenschaftlichen Begriffen, als Rechtfertigung die Methodik der Durchführung.

Wie sie an das Grundgesetz herangeführt werden kann, so an das christliche Evangelium, wie die Theologie vormacht, so auch an die sozialistische Werteordnung, die sich als die einzige wissenschaftliche Philosophie begriffen hat. So auch an den Faschismus. Das hat der Nationalsozialismus gezeigt.

Die potentielle Anwendbarkeit auf alle Werte und Unwerte wird von der Geisteswissenschaft positiv ausgelegt: Ihr Wissen sei eben nicht normativ, sondern relativ, nur bezogen auf den gegebenen Ansatz gültig. Oder es sei wertneutral, weil sachlich, nur objektiv. In diesem Sinne stimme es und sei das einzige, was man wirklich wissen könne.

Die Versicherung der Wissenschaft durch Beschränkung auf ihren methodischen Kern bewirkt die Verunsicherung des Menschlichen. Die Geisteswissenschaft entfremdet durch ihre komplizierte Technik, fordert im Kleinen die genauste Analyse, bleibt aber im Großen unüberblickbar, ein respektheischender Schatten, ein mystisches Gebirge hinter Nebel.

Sie gibt vor, logisch wie eine Rechnung zu sein, aber der Mensch ist nicht nur rational; er ist lebendig und kann sich so nie an der Geisteswissenschaft messen. Diese bleibt ein intellektuelles Spiel, das mit Ernst aufgeführt wird und keinen ironischen Witz verträgt. Eine Veranstaltung von Pharisäern, eine hohle Phrase. –

Der fünfte und vorläufig letzte Teil der Essayreihe wird die philosophischen Entscheidungen vorstellen, die die Geisteswissenschaften transportieren.

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