Subjekt und Objekt(ivität)

Der Mensch kann sich am eigenen Intellekt aus dem Sumpf der Subjektivität ziehen – so die neuerliche Variante des Münchhausen-Stücks. Über die Geisteswissenschaften und ihre unmögliche Objektivität.

von Stefan Schulze Beiering, 20.03.2011, 15:16 Uhr (Neues Zeitalter)

Der Baron von Münchhausen erzählte einmal in größere Runde, warum er immer noch einen Zopf trägt. „Der Zopf hat mich gerettet, als ich in den Sumpf gefallen war“, verblüffte er die Zuhörer. „An ihm zog ich mich wieder heraus! Seither hänge ich daran und mag ihn nicht abschneiden.“

Die Geschichte ereiferte die Gäste. „Unmöglich“, hörte man es raunen, „ein Mensch kann sich nicht an seinem Zopf aus dem Sumpf ziehen!“ „Immerhin, eine gute Idee!“, sagten andere. Wieder andere fügten hinzu: „Wir sollten mit Kritik vorsichtig sein, denn sind wir eingeladen und dinieren auf seine Kosten.“

So beließ man es dabei. Der Zopf wurde zu einem Markenzeichen. Die Gesellschaft kam regelmäßig auf Münchhausens Schloss, speiste gut und hörte seinen Geschichten zu.

Der Zopf der Geisteswissenschaft ist ihre Objektivität. Bis auf die Naiven glaubt keiner mehr an einen realen Hintergrund, aber sie taugt als gute Geschichte. Ihre Wirkung ist zu sehen: kultiviertes Miteinander, Kommunikation. Eine alternative Veranstaltung gibt es zudem nicht. Darum gehen viele hin.

Die Haarmode, die getragen wird, heißt heute meist anders: Begrifflichkeit, Sachlichkeit, Wissenschaftlichkeit. Der Zopf ist der gleiche geblieben.

Denn in den Veranstaltungen der Geisteswissenschaften wird etwas vermittelt, das unmöglich ist. Der menschliche Intellekt soll sich auf eine sichere Ebene heben. Damit wird auch die Vorgabe aus Münchhausens Geschichte relevant, der Sumpf. Ohne Objektivität scheint der Mensch im Sumpf zu stecken, im Morast seiner Vorurteile, seiner Befindlichkeiten, seiner privaten Zwänge. Der Sumpf des Menschen, das ist seine Subjektivität.

Freilich scheint es einfach zu sein, das Ganze aufzulösen, die Geschichte als Lügengespinst zu entlarven, den Sumpf trockenzulegen und den Zopf abzuschneiden. Doch hat der moderne Mensch die Begriffe „subjektiv“ und „objektiv“ mit der Muttermilch eingesogen. Mit ihnen gehen nicht nur Denkmuster einher, sie prägen Instinkte und Geschmack. Das ist eingewachsen, gehört zur eigenen Natur.

Ein breites Spektrum an kommunikativen und sozialen Werten verbinden wir mit Objektivität: Sachkenntnis, Wissen, Selbstkritik, Bescheidenheit, Zuhören, Argumentation, Intersubjektivität – die ganze Kultur scheint von der Objektivität zu leben, oder vom Wunsch nach Objektivität, und so dient der Zopf, das Kennzeichen des Absurden, dem Streben nach Wahrheit.

Der damit verbundene Gegenbegriff der Subjektivität zieht ebenfalls ein Spektrum von Werten an sich, zumeist negativen: Vorläufigkeit, Unsicherheit, Emotionalität und Befangenheit, private Bedürfnisse und Interessen, soziale Gebundenheit, Bedingtheit.

Wenn man sagt: „Ich bin subjektiv davon überzeugt“ oder: „Das ist meine subjektive Meinung“, dann schränkt man seine Aussage ein. „Ich bin davon überzeugt“ und „Das ist meine Meinung“ sind stärkere Formulierungen. Subjektiv, das ist ein abschwächendes Attribut.

Subjektiv kennzeichnet außerdem ein Verhältnis zu sich selbst, es ist eine Definition der eigenen Geltung. Wer sich als subjektiv empfindet, der schränkt sich ein. Das könnte eine Geste der Bescheidenheit sein, aber es ist zumeist viel mehr: ein Ausdruck von schwankendem Boden, auf den der Einzelne gestellt ist; es drückt die Abweichung von der sozialen Norm aus, sodass der Wertmaßstab fehlt; es formuliert die Ahnung, nicht objektiv zu sein, also nicht richtig aussagekräftig und nicht allgemein verlässlich. Subjektivität bedeutet den Rückzug der Person ins Private.

Wer das Objektivitätsideal nicht als intellektuelle Fingerübung, sondern existentiell abwerfen möchte, der muss daher seine Subjektivität aufwerten. „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“, sagt Protagoras, und das ist so ungefähr das Gegenteil von der wissenschaftlich bedingten Sicht, in der die Gegenstände nach ihrem eigenen Dasein befragt werden, sodass sie den Maßstab abgeben sollen. Die Aussage des Protagoras wird dadurch genau umgedreht: Die Dinge werden zum Maß des wissenschaftlichen Menschen. Objektivität ist seither wahr und Subjektivität falsch.

Das Thema der Objektivität betrifft also über den geisteswissenschaftlichen Betrieb hinaus das Menschenbild, das wir verinnerlicht haben. Es gehört zum westlich aufgeklärten Weltbild, das eng mit der Naturwissenschaft verknüpft ist. Darum müssen wir uns zuerst daran erinnern, was Objektivität in den Naturwissenschaften bedeutet.

Helming: Dreck

Photo: Michael Helming

Objektivität ist in den Naturwissenschaften eine Kategorie, die hergestellt wird. Das Mikroskop hat einen Objektträger, ein Tischchen, auf das das Objekt gelegt wird. Aus der Schule kennen wir die Versuche mit Mückenlarve oder Wasserfloh. In Groß kann das erschreckend aussehen; wie Alienmonster.

Das wäre natürlich keine objektive Beschreibung, aber die Versuchsanordnung ist nachvollziehbar, das heißt reproduzierbar. Unter gleichen Bedingungen, Mikroskop, 50-fache Vergrößerung, finden wir die gleichen charakteristischen Formen des Wasserflohs. Bei geregeltem Einsatz des Geräts gelangen wir zu allgemeinverbindlichen Erkenntnissen.

Ein Objekt ist ein einzelner Gegenstand, der aus seiner natürlichen Umgebung herausgenommen und mit einem Gerät untersucht wird. Die neue, technische Umgebung des Gegenstandes wird zur allseitigen Zustimmung definiert; der Gegenstand zeigt in dieser neuen Umgebung neue Konturen, er liefert Daten, die objektiv sind. Objektivität heißt hier also: Produktion von Daten nach Definition eines Versuchs. Das Ganze muss dann noch korrekt beschrieben werden und der Kontrolle durch Falsifikation und Kommunikation unterliegen, dann wird es anerkannt.

Diese Erläuterung zur Objektivität ist die moderne. Bis zur Quantentheorie glaubte man, die naturwissenschaftlichen Objekte seien in Wirklichkeit so, wie sie mittels Versuch in technischer Umgebung beschrieben werden. Dann stellte sich heraus, dass je nach Versuchsanordnung gegenteilige Daten geliefert werden – vom gleichen Objekt. Das Licht ist sowohl Welle als auch Korpuskel, obwohl deren physikalischen Eigenschaften sich eigentlich widersprechen. Das heißt, je nach dem, was gemessen werden soll, erscheinen die Eigenschaften von Welle oder Teilchen, oder vergleichsweise von Kreis und Quadrat.

Mit dieser Entdeckung rückte die Machbarkeit der naturwissenschaftlichen Weltsicht in den Vordergrund. Man musste sich eingestehen, dass die objektiv messbare Welt nicht so ist, wie sie ist, sondern so, wie wir sie vermessen. Objekte sind von uns gemachte Dinge, die uns wenigstens so viel über unsere Versuchs- anordnung, also unseren Wissenswunsch erzählen wie über sich selbst. Gleichwohl sind sie real. Die Voraussagen der Quantenmechanik, logisch widersprüchlich, wie das Beispiel der geisterhaften Fernwirkung, lassen sich heute vielfach nachmessen und beginnen langsam technisch umsetzbar zu werden. Die ersten Quantencomputer werden geplant.

Im Übrigen beweist die industrielle Technik, die auf konventioneller Naturwissenschaft beruht, die reale Anwendbarkeit und den immensen Nutzen der naturwissenschaftlichen Methode der Objektivierung. Sie beweist genauso ihre Künstlichkeit und ihre vom Menschen gemachte Art, denn die Industrie verändert die Welt.

Inzwischen sind wir also so weit anzuerkennen, dass wir Wirklichkeit nicht wahrnehmen können, ohne sie zu verändern. Wie das Ding oder die Welt an sich beschaffen sind, das wissen wir nicht. Mit Hilfe von Objektivierung gelangen wir nicht außerhalb des menschlichen Ermessens; wir können uns nicht von uns unabhängig machen, um die Wahrheit wertneutral zu sehen.

Die naturwissenschaftliche Objektivität ist dennoch im höchsten Maße aktiv und vital. Sie schöpft Werte, garantiert technischen Fortschritt, der dem Menschen zugute kommt oder zugute kommen sollte. Das gibt ihr einen hohen Bonus in der allgemeinen Bewertung.

Auch hat sich die Erkenntnis von der gemachten Sicht der Objektivität nicht allgemein durchgesetzt, Naturwissenschaft gilt immer noch als „den Dingen auf den Grund gehen“. Die Wissenschaft selbst wird als Methode der Wahrheit identifiziert, anstelle als Methode der Veränderung oder der Beherrschung. Mit dem Erfolg im Zuge der Industrialisierung hat sich ein wissenschaftliches Weltbild verbreitet, das im Darwinismus und der Psychoanalyse das Menschenbild seither prägen.

Dieses wissenschaftliche Weltbild liegt der Geisteswissenschaft zu Grunde. Im Glauben an die Objektivität als sachliche Wahrheit fing sie an, eigene Objektivierungsverfahren zu etablieren. Das romantische Ziel war die reine Erkenntnis, die Erlangung von Wissen, aber wovon?

Anstelle des Wasserflohs untersucht die Geisteswissenschaft geistige Objekte. Geistige Objekte können sein: Gedichte, grammatische Formen, soziale, ethische, intellektuelle Phänomene generell.

Auch der Objektträger, das kleine Tischchen, auf das der Wasserfloh gelegt wird, ist in der Geisteswissenschaft nicht physisch da. Die Gerätschaft des Mikroskops muss ersetzt werden durch eine intellektuelle Vorstellung. In der Geisteswissenschaft ist das die begriffliche Methode. Der Versuchsaufbau ist damit von vornherein nur gedacht, die Durchführung existiert allein in der sprachlichen Fassung.

Die eigentlich nachfolgende Beschreibung übernimmt also die Funktion der Versuchsanordnung samt Gerätschaft und Objekt. Die gewonnenen Informationen sind von vornherein nur Schrift. So wird aus der Dokumentation des Geschehens das Geschehen selbst.

Die Geisteswissenschaft besteht aus einer ausschließlich intellektuellen Übung. Das sind Gedankenexperimente im Medium der Schrift. Damit einher geht der Anspruch, auf diesem Wege, rein experimentell, rein schriftlich, Erkenntnisse zu produzieren, die anderen geistigen Prozessen überlegen sind.

In der Sprachreglung der Geisteswissenschaft wird das geistige Objekt heute häufig nicht Objekt, sondern Sache oder Problem genannt. Der Geisteswissenschaftler nähert sich nun der Sache oder dem Problem mit einer Fragestellung. Problem und Fragestellung werden durch das Fach, das engere Fachgebiet oder das Studienmodul vorbestimmt.

Die geisteswissenschaftliche Fragestellung hat, trotz der fachlichen Vorauslese, eine soziale Herkunft. Sie ruht daher noch im Unwägbaren, im Menschlichen. Das Problem beherbergt dafür die Sache, es wird als gegenständlich gedacht. Gibt das Problem seine Lösung preis, die Sache eben, dann haben wir ein sicheres Ufer erreicht, eine Insel, festes Land. Wir wären aus dem Sumpf des Unwägbaren befreit.

Wie schaffen wir den Weg vom menschlich Verunsicherten, der Fragestellung, hin zum sachlich Versicherten, der Lösung des Problems? Die Geisteswissenschaft stellt sich eine Brücke vor und das ist die begriffliche Methode. Die begriffliche Methode integriert und sublimiert die Fragestellung; sie stellt eine Verbindung zum Problem her. Sie soll das Problem schließlich auflösen und den Kern der Sache herausschälen. Sie gibt uns das Versprechen, wenn nicht heute, so doch später einmal die Lösung zu präsentieren. Auf der Brücke der begrifflichen Methode überschreiten wir dann den Styx, wir marschieren aus der Unterwelt ins Helle, wo die Sonne der Wirklichkeit scheint.

In der akademischen Praxis bedeutet das die begriffliche Umgestaltung von Sprache. Der begriffliche Code soll Erkenntnis garantieren. Er stellt den richtigen Mantel zur Verfügung, ist bereits nach den Gegenständen des Wissens geformt, um sie passend aufzunehmen und zu präsentieren.

Vorausgesetzt sind die geistigen Gegenstände, die zunächst unabhängig und unerkannt existieren. Der Forscher kann den geistigen Gegenstand nur ertasten und erfassen, wenn er seine begrifflichen Handschuhe trägt. Die Fachbegriffe sind also für die Gegenstände als Fassung gedacht, verwandeln aber zunächst die tastende Hand des Forschers in ein präziseres Instrument.

Die Berührung hüllt den Gegenstand in die Hand des Forschers. Seine Begriffe, ursprünglich nur präzisere Fragestellung, enthalten nun die Substanz der objektiven Welt, der verlässlichen Materie. Wir reden hier von nichts weniger als einer unio mystica. Innerhalb der begrifflichen Methode, durch die Schaffung eines akademischen Codes, vollzieht sich die mystische Vereinigung von Geist und Gegenstand.

Anders gesagt, die Geisteswissenschaft müht sich darum, die geistige Wirklichkeit in Begriffen zu entziffern, wobei Vorannahmen die Regie führen. Die geistige Wirklichkeit wird außerhalb der üblichen Erfahrung angesiedelt. Für sie muss erst eine Sprache, die akademische, erfunden werden. Objektivität wird als Gegenbegriff zur gewöhnlichen Sprache und zur gewöhnlichen Gefühlswelt verstanden.

Die geistige Wirklichkeit wird dabei als konturierter Gegenstand gedacht, weshalb ein Lieblingswort der Geisteswissenschaft „Struktur“ heißt. Sie glaubt, überall Strukturen erkannt zu haben. Begriffe sollen die gegenständlich konturierten Formen des Geistes aufnehmen und transportieren; daher definiert man Begriffe, indem man sie aus dem Fundus der Sprache herausnimmt und in ihrer Bedeutung festlegt. Man macht sie also ähnlich körperlich, wie man sich die geistige Welt vorstellen will.

Man möchte die geistige Welt entziffern, weil man Verständnisprobleme hat; nun könnte man an sich selbst arbeiten, um sie besser zu verstehen oder mit seinem mangelnden Verständnis besser fertig zu werden; stattdessen schreibt man die Sache um, bis sie dem eigenen Verständnis angepasst ist. Der Geisteswissenschaftler schreibt die Objektivität in die Geschichte hinein; er verfasst aus purem Glauben ein objektives Traktat.

Man kann die Geisteswissenschaft auch als Karikatur der Naturwissenschaft sehen. Sie zeigt überdeutlich die philosophische Leere des wissenschaftlichen Denkens. Während die Objektivierung der physischen Welt ein Konstrukt aus Mensch und Welt oder aus Geist und Materie hervorbringt, erweist die Geisteswissenschaft, dass der Mensch nur mit sich selbst spricht. Ihre begrifflichen Behauptungen sind so reine Erfindungen wie die Erlebnisse des Barons von Münchhausen. Ihre Objektivität ist eine absurde Vorstellung der Subjektivität.

Der beste Beweis für den fehlenden Sinn der Geisteswissenschaft ist ihre Fruchtlosigkeit. Es gibt keine allgemein verwertbaren Resultate, keine geistige Wertschöpfung, von der irgendwer profitieren könnte. In der Bildungsarbeit der Schule stören geisteswissenschaftliche Modelle. Sie sind Ballast. Die allgemeine Presse verzichtet darauf, die Politik, die Wirtschaft – also was soll es?

Objektivität ist unmöglich, wenn man darunter eine sachlich korrekte Darstellung versteht. Die Perspektive fließt mit ein. Oder anders: Objektivität ist nicht eindeutig. Eine Sache kann sich aus verschiedenen Blickwinkeln unterschiedlich darstellen, bis hin zum logischen Widerspruch.

Diese Aussage lässt sich leicht an politischen Diskussionen überprüfen. Sie gilt natürlich auch für geisteswissenschaftliche Diskussionen. Dennoch hält die Geisteswissenschaft an ihrem Versuch fest, objektiv oder sachorientiert zu arbeiten, und zwar ausschließlich. Dennoch verfasst sie alle ihre Versuche in Begriffssprache, denn der Begriff soll der Sache besser angepasst sein.

Die Geisteswissenschaft tut also einfach so, als gebe es eine unabhängige Wirklichkeit, die es zu beschreiben gelte. Sie räumt ein, dass das Subjekt nicht ausgeschlossen werden könne, versucht mit dem Begriff der Intersubjektivität einen Weg ins Soziale, der weniger vorläufig und mehr allgemeingültig den Standpunkt des Betrachters formen soll. Davon unberührt bleibt ihre Vorstellung einer objektiven Sphäre, die es zu erreichen gelte.

Ihr Bildungskonzept ist: Der Mensch soll von der Sache lernen. Der Einzelne soll sich zurücknehmen, soll seine irrenden Ansichten ausschalten, seine Ahnungen und Instinkte, seinen Geschmack als subjektiv verteufeln. Seine pubertäre romantische Ader soll der kühlen Klassik der Sache weichen; so wird das Individuelle ausgespült und das Gehirn gewaschen.

Ich meine: Da es die Sache nicht unabhängig von der Person gibt, muss die Person auch in intellektuellen Veranstaltungen stärker in den Vordergrund treten und vom ständigen Zwang zur Sachlichkeit befreit werden. Anstatt in exklusiven akademischen Zirkeln abzuheben, muss Bodenhaftung her. Anstelle von Spitzfindigkeiten müssen breite Themen besprochen werden. Anstelle sprachlicher Verdünnung in fachliche Ritzen brauchen wir eine neue sprachliche Substanz.

Die Person entscheidet über den Bildungswert, nicht die Sache. Die Person hat den Vorrang, es geht um die Ausbildung ihrer Ansichten. Darum muss sie unterstützt, in ihrer persönlichen Empfindung und in ihrem persönlichen sprachlichen Ausdruck gewürdigt und befördert werden, nicht zu Tode diszipliniert oder in die Leere der akademischen Welt verbannt.

Die akademische Begriffssprache mit Nominalstil und Fachwörtern ist eine Fremdsprache, die keine Heimat hat, nirgends den Boden berührt. Sie ist eine Spezialsprache, die keinen Werkstattbereich, kein Handwerk, keine Industrie hat. Der Geisteswissenschaftler erlernt sie nur aus einem Grunde: Er soll sich selbst verleugnen. Seine Person soll geschwächt werden. Der Mensch soll zum Subjekt degenerieren, eine Gattung nahe dem Insekt.

Ein Subjekt ist gefangen im Netz sozialer und individueller Bezüge. Es kann sich nicht befreien, seine Herkunft, seine Biologie, seine Wünsche, seinen Kontakte, alles determiniert es. Kein Gefühl eines Subjekts ist frei, seine Annahmen zur eigenen Existenz sind Fiktion, seine Selbstständigkeit Einbildung. Ein Subjekt hat in sich nichts Reales, es ist eine Funktion im biologischen und sozialen Konzept. Es ist genetisch programmiert und spielt nur eine Rolle in der Gesellschaft, tauscht Konventionen aus. Sein Geist ist auf das Bewusstsein reduziert, das im Großhirn produziert wird, seine Gefühle entstehen näher dem Rückenmark. Es ist ein nur scheinbar befreites Tier, in Wirklichkeit ein Affe im Käfig seiner Beschränkungen.

Sein ganzes wissenschaftliches Selbstbild ist auf Nützlichkeit hin organisiert. Es erinnert daher an Maschinen, die die Wissenschaft zuerst hervorgebracht hat. Der Mensch ist in der Industriegesellschaft ein vernutztes Wesen. So betrachtet die Wissenschaft ihn auch selbst. Wozu ist der Magen von Nutzen? Zur Nahrungsaufnahme und Vorverdauung. Wozu ist Verliebtheit von Nutzen? Zur Fortpflanzung. Wozu ist Moral von Nutzen? Zur Zügelung und Sozialisierung von Trieben.

Derart verstreckt und gespannt in ein Geflecht aus Zwecken gleichen die menschlichen Glieder den Fortsätzen einer Spinne. Gregor Samsa erwachte eines Morgens und erkannte, dass er ein Insekt geworden war. Er war ein feinsinniger Mensch. –

Die nächste Folge dieser Essayreihe wird sich mit den typischen Argumentationsmustern der Geisteswissenschaften beschäftigen.

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