Im Bett sind wir sicher. Halbwegs.

Will man wissen, woher die Monster kommen, muss man der Angst und Furcht nachgehen, woraus sie geboren wurden, um dem allgemeinen Schrecken eine Fratze zu geben. Bezeichnend ist, was das Horror-Genre dabei alles auslässt.

von Marc Hieronimus, 25.03.2011, 13:45 Uhr (Neues Zeitalter)

Es gibt keine Monster, oder wenn, dann sind sie winzigklein, denn ich habe noch nie eines gesehen, man muss aufpassen, dass man nicht auf sie tritt. Das sagt das Kindermädchen der „kleinen Prinzessin“ in der gleichnamigen Kinderbuchreihe zum Thema Gespenster – und die Gespenstermutter sagt das gleiche ihrem Kleinen über kleine Mädchen. Mehr sollen und wollen die Kinder gar nicht wissen. In dem Alter geht noch vieles durcheinander. Sie halten Monster für den Oberbegriff für alles Schreckliche: Wolf, Gespenst, Bär, Drache und, wer weiß, wahrscheinlich auch die böse Stiefmutter; ein wenig, wie sich Norbert Borrmann in seinem „Lexikon der Monster, Geister und Dämonen“ vor einer Begriffsbestimmung drückt und also/dennoch kühn erklärt, wir bräuchten sie, nämlich als Erinnerung an alles Nicht-zivilisierte in und um uns, und solange nur ein einziger Mensch noch lebe, sei die Welt von Ungeheuern aller Art bevölkert. Ja, „eine noch größere Hölle [als unser ‚Hinausgeworfensein in eine Welt der Fremdheit und der Ungewissheit‘] wäre es wohl, würden wir bereits alles wissen und gäbe es keine Überraschungen und Ungewißheiten mehr für uns. Es wäre das Leben in einem ewigen Gefängnis ohne jede Fluchtmöglichkeit. Einen solchen Horror verkraftet wahrscheinlich nur einer – Gott allein!“ Das reicht für ein illustres Buch beim Lexikon Imprint Verlag, für den gottlosen Lichtwolf muss man noch mal genauer nachdenken.

Zunächst: Die Angst der Kinder ist real, der gute Zuspruch, wenn er ehrlich ist, das Heilmittel. Woher kommt die Angst? Es ist diskutabel, ob der Mensch wirklich in seiner Ontogenese die Phylogenese nachvollzieht (Kinder mögen Höhlen, Wasser, die Natur; kooperieren und schlagen sich die Köpfe ein; das sind Indizien, keine Beweise); Evolutionspsychologen wie Geoffrey Miller gehen wohl zu weit, wenn sie unser Partnerwerbungs- und Einkaufsverhalten durch die biologisch oder im übertragenen Sinne vererbte Geschichte erklären. Sicher ist, dass wir nicht gänzlich blank zur Welt kommen, unsere Psyche, unser Wesen vielmehr gewisse Anlagen hat, und es ist nicht ganz unvernünftig anzunehmen, dass die Jahrtausende der Jagd und Sammlung, der Abwehr von Gefahren, der Reflexion zu ihrer Vermeidung, des Zusammenlebens in strukturierten Kleingruppen (und nicht etwa in Hochhaussiedlungen mit Kleinfamilienparzellen) in irgendeiner Form ein Scherflein zu ihrer Formung beigetragen haben. Die Angst gehört zur Anlage und zur Kultur gehören die Erzählungen, sie zu besänftigen. Die der Eltern, der Freunde, der Regierungen, des „gesunden Menschenverstandes“, des Zeitgeists. Und jede Zeit, das streift der Monster-Autor, wie es Siegfried Kracauer in seinem Caligari-Hitler-Filmbuch tat, hat eben jene Ängste und heil- oder unheilsamen Erzählungen, die sie verdient. Wenn es nicht umgekehrt ist.

Der Erwachsene ist dem Kind darin voraus, dass er sich, was er nicht versteht, erklären kann, ja muss. Der Vulgäratheist lehnt Unerklärliches schon an der Basis, am Ereignis ab; es gibt für ihn nichts Übersinnliches, Paranormales, und bei „Monstern“ trennt er streng zwischen der Erzählung und den vielleicht wirklich irgendwo versteckten Lebewesen. Es ist zum Allgemeinplatz geworden, dass die japanische bzw. amerikanische Gesellschaft mit ihren Horrorfilmen von monsterhaften Mutationen oder Eindringlingen ihre Traumata und Ängste bzgl. Radioaktivität, Überfremdung und anderem verarbeitet habe. Warum nicht. Die Filme haben gemein, dass das Problem immer gelöst wird, und selbst wenn einmal nicht, ging der Betrachter doch mit dem guten Gefühl aus dem Kino, dass es um die wirkliche Welt am Ende doch nicht so schlecht bestellt ist. So erfüllten sie einen Zweck oder hatten, neutraler gesprochen, eine Funktion.

Spinne, photographiert von Michael Helming

Photo: Michael Helming

Die Frage ist, wovor fürchtet man sich heute, und was zeigt sich alles nicht, oder nur dem Betrachter zweiter, dritter, oder noch höherer Ordnung? Wie fruchtbar und verlässlich sind Filme, Literatur, Comic und andere nicht-interaktive Medien als Quelle der Mentalitätsgeschichte? Die Historiker alter Schule tun sich schwer mit Unterhaltungsmedien. Eine Urkunde ist greifbar, hat Namen, Zahlen, usw. Beim Film weiß keiner, wer ihn wann warum mit welchen Gefühlen gesehen hat. Aber Filme kosten Geld. Wer immer Unterstützer fand für ein Projekt, traf also einen Nerv, selbst wenn der Film am Ende floppte; die Existenz eines Films bezeugt mehr als die eines Comics oder eines (am Ende unveröffentlichten) Textes die Relevanz seines Themas und die Angemessenheit seiner Behandlung. Sicher, auch hier wüsste man im besten Falle genau, wer wo mit welchen Argumenten dreingeredet hat, aber es soll ja gar nicht darum gehen, die Angstgeschichte der westlichen Gesellschaften von den Brüdern Lumière bis Roland Emmerich nachzuvollziehen, es geht um ein Tasten, um Fragen, Ideen – und um Monster.

Vergessen wir die Vampire von Murnau über Herzog und Polanski bis „Twilight“ und „Der kleine Vampir“: Lächerlich. Allenfalls cool. Oder erotisch. Vergessen wir die Außerirdischen. Nach der Angst vor ihnen ist längst auch die Hoffnung auf sie nur noch karikatural, also auf höherer Ebene vertretbar. Horror ist heute, da der Westmensch die Natur um sich herum mittels seiner Wissenschaft und Technik unterworfen hat, Authentizität und individuelle Betroffenheit, der horror vacui, die Furcht vor dem eigenen Ende und die vor den Resten von Natur in sich selbst. Neben dem (Umwelt-)Katastrophenfilm, der hier nicht Thema ist, und dem immer schon selbstironischen und leise gesellschaftskritischen Zombie-Genre à la George Romero bleiben folglich nur die Schmerzspektakel. Saw, Hostel, Hotel, Motel – wer kann die Folterinszenierungen noch auseinanderhalten, denen sich (ewig) Jugendliche heute unterziehen? Vor allem: Wofür härten die sich ab, auf welches Leben wird hier vorbereitet? Wer die ausgetüftelten Schreckeffekte nervlich, das Aufschlitzen und Abtrennen sensibler Gliedmaßen optisch erträgt, hat der bessere Chancen, im Großstadt-, Arbeitsmarkt- oder ganz einfach: Lebensdschungel zu reüssieren? Es ist zu befürchten.

Horrorfilme sind wie alle kulturellen Äußerungen schichtspezifisch und werden in erster Linie von Kindern zunächst der Unter-, dann der abstiegsbedrohten Mittelschichten konsumiert und zum Zeichen gemacht – wie Gangsterrap, Graffiti, Komasaufen oder Hooliganismus. Statt etwa um Solidarität, Klassenbewusstsein, Ganzheitlichkeit oder historisch wie auch immer verankerte Populärkultur geht es also um Individualismus, Härte, Misogynie und Trash. Wieder so ein Fass, das hier gedeckelt bleiben muss.

Ein anderes, verwandtes: Auch die Kinderfilme sind nicht zeitlos. Oder vielmehr: Zeitlose Kinderfilme und -serien werden nicht mehr gemacht. Die „Teenage Mutant Hero Turtles“, „Shrek“ [sic!] oder die Barbie-Mickymaus-verschnittenen Märchenneuauflagen aus dem Hause Disney wären in den Siebzigern undenkbar gewesen; damals gab es (neben Heidi, Biene Maja und dem kleinen Maulwurf) auch gelegentlich schon sonderbare Wesen, aber die lebten in der Sesamstraße, traten in der Muppet Show auf oder waren „Barbapapas“.

Warum sind die schnellen Bildfolgen voller Gewalt und programmiertem Gefühl allgemein geworden – und was macht das mit den Kindern? Das ist sicher längst Stoff für mehrere Regalmeter geisteswissenschaftlicher Esoterik voller Körper- und Raummetaphorik, wenn der nächste turn dem institutionalisierten Mittelbauler nicht längst schon wieder andere Turnübungen abverlangt; doch ohne Reflexion über die Geschichte, die Möglichkeiten und die Grenzen des oder der Menschen jenseits von Wettbewerb und Konsumismus wird auch eine sich „kritisch“ gebende Kulturwissenschaft die Entwicklung der immer weniger disparaten, in allgemeine „Westlichkeit“ konvergierenden Gesellschaften allenfalls beobachten, kaum nur verstehen und sicher nicht verändern können. Und mit ihnen nur zu bald in einem monströsen Finale verschwinden.

Monster sind menschenähnlich. Sie rühren an uns. „Alien“ war gruselig, Alien-plus-Mensch in Folge vier dagegen widerlich. Früher warf man sich, auch bei uns, Felle um, trug Masken, um der Angst vor der noch nicht ganz unterworfenen Natur um uns zu begegnen, doch vor allem der in uns. Die Ausbrüche der Wildheit – Walpurgisnacht, Werwolfstum, Sündenbockverprügeln, Stierkampf, Judenpogrom, mit der kaum getarnten Variante Nubbel-, vorher: „Zachaies“, d.h. Zacharias-Verbrennung im Karneval, Karneval selbst, quasi alles in Dürrs „Traumzeit“, dann die eigentlichen Wildheiten der heute auch längst Auto-, Handy-, etc.-gezähmten Menschen anderer Länder, Kontinente mit ihren Drogen, Bemalungen, Ekstasen, das ist kein Fass, sondern die Geschichte der Menschheit – die Ausbrüche der Wildheit zeugen vom Gespür der Menschen für das Tier in ihnen und die Gefahr, die von der Beschränkung auf das Nicht-tierische als das vermeintlich Menschliche ausgeht. Der Geist ist nicht alles, selbst wenn er asketisch, pazifistisch, urkommunistisch und „heilig“ ist; auch das Christentum hat sich im spätantiken bzw. frühmittelalterlichen Europa nur durch ein weitgehendes Arrangement mit den dort herrschenden naturreligiösen Vorstellungen verbreiten können, und erst in der frühen Neuzeit war das „wilde Denken“ randständig genug, es im Trubel der neuen Erkenntnisse und Ereignisse als Hexenwesen zu vernichten.

Die ärgste Angst ist weg, wir fürchten nicht mehr die Natur, wir fürchten um sie. Was von ihr noch in uns bleibt, fügt sich in die gesellschaftlich akzeptierten Trieb- und Verhaltensformen, auch die Ausbrüche sind kanalisiert; was dann noch bleibt, wird medikamentös gedämpft, wird therapiert und weggesperrt, wird überwacht, bestraft. Dabei gibt es sie heute noch, und jetzt sogar in echt, die Monster. Sie schwimmen in Ethanol in jeder gutsortierten Uni-Pathologie, leben gelegentlich (das heißt zu Hunderttausenden) in Südvietnam, um Tschernobyl herum, und neuerdings auch auf dem Balkan und im Irak; meist werden sie freilich schon tot geboren. Komisch, da sieht und hört man gar nicht viel von, obwohl die Mechanismen von Strahlung, Dioxin und Pesti-, Fungi-, Herbiziden auf der einen, Mutation der anderen Seite doch schon lang genug bekannt sind. Ich warte vergeblich auf den Blockbuster zum Thema, „Alien Orange“, „Monsanto attacks!“ oder „Der Fluch der Kernphysik“; mit Johnny Depp als Oberclown und einer Serie Playmobilfiguren zur Vermarktung. Die würden mir helfen, den Kindern diesen Horror zu erklären.

Aber so läuft das natürlich nicht. Angst als Grund- und Furcht als zielgerichtetes Gefühl sind sinnvoll, wenn sie zur Flucht oder zum Angriff führen. Wo wir machtlos sind – beim eigenen Tod, der sicher kommen wird, bei den Naturgewalten, aber eben auch Chemiewaffen, Krieg anderswo, sogar daheim, beim „Kippen“, das heißt: Sterben ganzer Lebensräume, bei allem, was uns als Einzelne übersteigt, und das ist viel, wie oft schließt man sich denn schon im Leben zusammen, um Gefahren abzuwenden?! – bleibt als Ausweg das Verschieben und Verdrängen auf später, den Schlaf, den Magen, die nächste Therapiesitzung. Und über kurz oder lang gewöhnt man sich an alles, mit oder ohne Horrorfilm; „on n’oublie rien, on s’habitue“, sang Jacques Brel, der sich, anders als die meisten seiner Zuhörer, über die eigene Vergänglichkeit nichts vorgemacht hat. Gewöhnung und Vergesslichkeit sind ein Zug (nicht zwei), der die Menschen gegenüber vielen anderen Tieren auszeichnet, der ihm aber zum Verhängnis werden wird. Die zäheren Lebewesen werden bleiben, unter den Säugern sicher Ratten und Mäuse, und „weiter abwärts“ jede Menge Gekreuch und Gefleuch sowie fast alle Pflanzen. Viel mehr gab es auch nicht vor 65 Millionen Jahren, als die aus heutiger Sicht monsterhaften, aber unter sich wahrscheinlich ganz zufriedenen Dinos „plötzlich“ in nur wenigen Jahrhunderttausenden verschwanden und damit auf das Aussterben mehr Zeit verwandten als die Menschheit im engeren, zivilisierten Sinne auf ihre gesamte Existenz.

Es kann also nach uns wieder von vorn losgehen. Falls das tröstlich ist. Es gibt solche Momente. Im Bett zum Beispiel, wenn man – wer weiß, aus welchem Grund – nicht schlafen kann.

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