Die Verschwarmung des Menschen

Seit Jahren warten wir auf das Ende der Postmoderne. Jetzt ist es endlich gekommen: Die Schriftstellerin Dubravka Ugre¨ić urteilt nicht zu Unrecht, mit dem Internetzeitalter sei die Postmoderne gestorben. Der Gitane-rauchende, verlorene Großstadtneurotiker der Postmoderne wird abgelöst durch den im Netz geborgenen Menschen.

von Timotheus Schneidegger, 04.10.2009, 13:01 Uhr (Neues Zeitalter)

 

Neulich auf arte kam eine Doku (wird morgen wiederholt): In Leeds geht man der Frage nach, wie sich Tierschwärme (Fische, Stare, aber auch Ameisen und Bienen) selbst organisieren. Für die Forschungsergebnisse interessiert sich u.a. die Robotik, da Nanoroboter zu klein sind, um sie mit Empfangsteilen auszurüsten und von außen steuern zu können. Die in Schwärmen lebenden Tiere machen vor, wie sich komplexe soziale Systeme ohne zentrale Steuerung oder Hierarchien regulieren.

 

Die Tiere haben nie ihren gesamten Schwarm im Blick, sondern orientieren sich an einigen wenigen Nachbarn. Dadurch bleibt der Schwarm als Ganzer flexibel und zusammenhängend, und keines seiner Mitglieder wird hoffnungslos überfordert. Wenn ein Mitglied etwas Interessantes erspäht, reagiert es individuell darauf: Eine Nahrungsquelle lockt das Schwarmmitglied an, vor einem Fressfeind flieht es. Dabei nimmt es vor Hunger oder Furcht zunächst einmal keine Rücksicht mehr auf seine Nachbarn. Diese entdecken entweder das Gleiche und verhalten sich individuell ähnlich; oder aber sie bemerken nur die entschiedene Positionsänderung ihres Nachbarn und folgen ihm. Dadurch pflanzt sich der Impuls durch den gesamten Schwarm fort, selbst wenn nur ein einziges Mitglied die Nahrungsquelle oder den Fressfeind entdeckt hat und alle seine Nachbarn und deren Nachbarn lediglich seiner Reaktion folgen. Die Vorzüge eines Lebens im Schwarm liegen auf der Hand.

 

Dies ist interessant, weil die Schwarmintelligenz immer dann bemüht wird, wenn es die Überlegenheit der Elektromedien gegenüber den hierarchisch starren Holzmedien zu preisen gilt. Es sei zu Gunsten derer, die gerne von Schwarmintelligenz reden, vermutet, sie gebrauchten den Begriff metaphorisch. Denn Schwärme bestehen, so intelligent sie sich als Ganze auch zu verhalten scheinen, nur aus Vollidioten.

Weil der Schwarm sich selbst organisiert, nimmt er seinen Mitgliedern viel Koordinationsarbeit ab. Dadurch können sie sich einen – gelinde gesagt – sehr schlanken kognitiven Apparat leisten. Das Gedächtnis von Ameisen und Bienen deckt einen Zeitraum von wenigen Minuten ab, was vollkommen ausreicht. Denn wichtige Informationen wie der Weg zu einer Nahrungsquelle zirkulieren dauerhaft im gesamten Schwarm. Biene Maja muss sich nicht merken, wo sie eine leckere Blüte gefunden hat, weil sie den Weg bei ihrer Rückkehr zwei Kollegen vortanzt und Stunden später von einem anderen Kollegen vorgetanzt bekommen wird. Man muss nicht alles wissen, man muss nur jemanden haben, der es einem ständig erzählt.

 

Der Mensch nun ist kein Schwarmtier, denn er ist streitlustig und neugierig. Die Lust, sich mit anderen zu messen und das eigene Potential auszuschöpfen, macht ihn vollkommen ungeeignet für ein Leben in Schwärmen. Nichts wäre ihm mehr zuwider, als in eine Richtung zu gehen, weil seine engsten Freunde ebenfalls dorthin gehen. Ebenso wenig erstrebenswert ist es ihm, kein eigenes Wissen anzusammeln, sondern nur von Stunde zu Stunde mit dem zu leben, was ihm mitgeteilt wird.

Gleichwohl ist die kognitive Entlastung, die der Schwarm dem einzelnen Mitglied gewährt, verführerisch. Man muss weder Zugfahrpläne noch Autorouten mehr auswendig lernen und wenn man wissen will, welcher Meinung man zum Thema Internetsperren, Waffengesetze oder Zeitungssterben sein kann, gibt Twitter die Antwort in Echtzeit.

 

Es seien Zweifel angebracht, ob das Wort von der Schwarmintelligenz im Netz wirklich nur metaphorisch zu verstehen ist. Denn zumindest was die Entstehung und Ausbreitung von Impulsen angeht, verhält sich das Netz schwarmartig. Stasi 2.0 und Zensursula dürften innerhalb weniger Minuten nach dem Durchsickern ihres Regulationswillens als Feinde ausgemacht worden sein, auf die sich der gesamte Schwarm eingestellt hat. Das Zeitungssterben quittiert der Schwarm mit Häme oder Mitleid, nachdem das großkopferte Wort vom Qualitätsjournalismus der Blogosphäre entgegengestellt wurde, in der es seither in ständigen Anführungszeichen zirkuliert, ohne dass irgendeiner noch wüsste, wo es herkam. Aber alle im Blogroll schreiben es dauernd in Anführungszeichen und reagieren darauf, als wäre es eine Beleidigung, und sie stammt wohl von Leuten, deren Tweets wenig sichtbar sind.

 

An anderer Stelle wurden bereits die Vorzüge des Internet gewürdigt. Weil es einfach und preiswert ist, im Netz zu veröffentlichen, hat nun wirklich jedermann die Möglichkeit, sich öffentlich zu äußern. Diese Einlösung eines erzdemokratischen Versprechens bringt jedoch einen überraschenden Uniformitätsdruck mit sich, der sich zumindest an der zugrundeliegenden Technik belegen lässt.

 

Wer bereits um die Jahrtausendwende im Netz unterwegs war, erinnert sich vielleicht noch: Damals konnte man sein Gerümpel noch anderswo versteigern als bei eBay. Bücher hat man damals auch nicht nur bei Amazon bestellt und „Suchmaschine“ war noch nicht gleichbedeutend mit „Google“.

Was ist aus den alternativen Anbietern geworden? Ist ihr rapides Absinken in die Bedeutungslosigkeit nur mit einem eisenharten Verdrängungswettbewerb in einem unregulierten Markt zu erklären?

 

Wer twittern will, muss Twitter benutzen. Da das Prinzip der Echtzeitkommunikation in unter 140 Zeichen kaum patentierbar ist, gibt es nur darum keine Alternative zu Twitter, weil die Technik „extrem schnell extrem groß“ („Social-Media-Fachfrau“ Nicole Simon in der SZ) geworden ist. Wie konnte das passieren? Wäre Ford heute der einzige Autokonzern, wenn er damals jedem, der sich motorisieren will, eine Tin Lizzy kostenlos gegeben hätte? Nein, denn die nötigen Fabriken und Arbeiter hätten Fantastillarden gekostet und immer noch mehrere Stunden gebraucht, um ein einziges Auto ausliefern zu können. Im Internetzeitalter kann sich jede Technik in Windeseile ausbreiten, sofern sie voll und ganz immateriell (und „free“ im Sinne von kostenlos und frei verwendbar) ist.

 

Blogs, die nicht auf Grundlage der WordPress-Software laufen, sind selten, auch wenn sie sich nicht an nur einer Hand abzählen lassen. Hier nun gibt die Uniformität wirklich Rätsel auf. Denn es gibt jede Menge Alternativen zu WordPress, das überdies wiederholt durch Sicherheitslücken von sich reden macht. Am ehesten an einer Hand abzählen lassen sich die Websites, die auf einer eigenen Software laufen, anstatt auf WordPress und Konsorten oder auf einer vorgefertigten CMS-Software aufzubauen und dadurch sofort bereit für Inhalte zu sein. Der Grund ist darin bereits gegeben: Weil es einfacher ist, als selber eine Software zu entwickeln, also das Rad neu zu erfinden, wenn ringsum Räder jeden Zuschnitts, kostenlos und augenblicklich zu haben sind.

 

Schonmal was von Seamonkey gehört? Seamonkey ist der Nachfolger des Netscape Navigator, eines Browsers der ersten Stunde. Obschon Seamonkey neben dem Browser auch E-Mail-Client, Adressbuch und IRC-Chat-Client integriert hat, also alles, was man dem Firefox erst noch mit Applikationen aufsatteln muss, benutzt ihn kaum noch jemand. Stattdessen surft jeder, der sich mindestens gut genug auskennt, um sich nicht mit dem vorinstallierten Internet Explorer, Konqueror oder Safari zu begnügen, mit Firefox. Er hat sich nicht etwa durchgesetzt, weil er so schlank ist – denn gleich nach der Installation werden sämtliche Feuerfüchse mit Themes, Applets und Plug-Ins gepäppelt. Er hat sich durchgesetzt, weil „alle“ ihn benutzen.

 

Der gleiche Grund bescherte dem Windows-Betriebssystem jahrelang Marktanteile von 90 %, die es aus dem wieder gleichen Grund in den kommenden zehn Jahren an Apple abgeben wird. Weil fast jeder einen iPod hat, beschäftigt sich auch fast jeder mit iTunes. Von diesem iPhone hört man auch immer wieder: Es ist praktisch und sieht cool aus. Wenn man nun schon so viel iTechnik im Haus hat, wird deren Verwendung und Verwaltung viel geschmeidiger, sobald man vom ohnehin ungeliebten Windows-PC auf einen Apple umsteigt. Der soll, so twittern die richtigen Cracks ständig, ja sowieso viel besser sein.

 

Soweit zum technischen Uniformitätsdruck innerhalb des pluralistischen und dezentralisierten Systems Internet. Ob er sich auch bei den Inhalten beobachten lässt, ist noch offen. Das Internet scheint eine rein technische und kontingente Verknüpfung von Individuen mit je eigenen Meinungen, Werten und Hoffnungen zu sein. Indes leben auch nicht alle Bienen der Welt in einem einzigen Schwarm, aber jede Biene lebt in einem Schwarm oder lebt gar nicht. Der Mensch ist keine Biene, ihm wäre es schon aus den oben genannten Gründen zu doof, immer nur in einem Schwarm zu leben. Er braucht einen für jede Angelegenheit, die ihm wichtig ist: Politische Einstellung, Karriere, Freizeit, sexuelle Vorlieben.

Auch ist es nicht erst seit Erfindung der E-Mail so, dass Menschen sich mehr oder weniger nach ihren engsten Mitmenschen richten und Gleich und Gleich sich gern gesellt. Erst im Internet jedoch mit der augenblicklichen, unbegrenzten und uniformierten Ausbreitung von Impulsen besteht die Möglichkeit eines emergenten Totalitarismus, der ohne Diktator und Geheimpolizei auskommt und seine Inklusion und Exklusion dafür effizienter denn je ausüben kann. Es ist nicht ohne Ironie, wenn dies ein Epiphänomen des Mitmach-Netzes ist, also der massenhaften individuellen Praxis, via Internet aktiv und passiv am Weltwissen teilzuhaben und die freie Meinung zu äußern.

 

Als der postmoderne Mensch den Glauben an Gott und Ideologie verlor, trat er aus dem Kollektiv in die Vereinzelung hinaus. Durch das Internet vernetzte er sich mit anderen Vereinzelten und wurde zum Menschen des neuen Zeitalters: Je bedeutsamer das verschwarmte Internet für seinen Alltag wird, desto verschwarmter wird auch er. Man wird sehen, was aus ihm wird. Eines darf jedoch schon vermutet werden: Der übernächste Mensch wird auf den verschwarmten ebenso herabblicken wie dieser auf den postmodernen.

Schreiben Sie einen Kommentar