Punkrock und Primitivität

Protokoll eines Tele-Symposions (1) des Instituts für Polytoxikomanologie und Perspektivismus über die utopistische Dimension der Primitivität im Ausgang von Cramps, Adorno und Nietzsche.

von IPuP-Press, 20.09.2010, 15:11 Uhr (Neues Zeitalter)

Prof. Kemp: Schreiben über Steinzeit. Steinzeit. Verdammt. Steinzeit. Keine intellektuellen Höhenflüge, nicht mal irgendeine Idee. Nur Songfragmente. Im Kopf. Nehmen allen Raum ein und lassen keinen Platz für Ideen / Inspiration. Wie eine viel zu dicke Katze, die sich auf sämtliche Notizen setzt.

„Primitive / that’s how I live / primitive“, mehr ist nicht drin, sagt mein dickes Katzen-Gehirn / Geist Ding (das IPuP bleibt hier unentschlossen, da es sich nicht in seltsame philosophisch-wissenschaftliche Grabenkämpfe begeben möchte, bis nicht eine der Seiten endgültig zum Gewinner erklärt wurde; das IPuP ist opportunistisch organisiert und möchte sich immer der Gewinner-Seite anschließen).

Okay, hören wir auf, Widerstand zu leisten, gehen mit dem Flow und denken ein wenig über diesen Song nach. Was singt der werte Herr Lux Interior denn sonst noch so?

Nicht besonders viel. Scheint sich um eine allgemeine Lobpreisung der Primitivität zu handeln. Wobei die Bestimmung dessen, was Primitivität nun eigentlich ist, etwas zu kurz kommt; von einem philosophisch-begrifflichen Standpunkt aus gesehen; für Punkrock ist das natürlich völlig okay, ist ja schließlich Musik oder Kunst und die machen doch eher in Affektivem als in Begriffsschnitzerei. Gut, dann versuchen wir es mal mit etwas stärker hermeneutisch orientierten Styles. Was wir haben, ist Folgendes:

„What I don’t know can never hurt me / I live a life that’s working for me / what I respect you just can’t see / what you expect I’ll never be / primitive that’s how I’ll live / primitive I take what you give / cause I love and I live primitive / the things I do you’d never try / what I get free you have to buy / I’m proud of my life but don’t ask me why cause if I told ya, I’d probably… / primitive that’s how I live / primitive I’ll take what you give / cause I love and I live primitive“

Drei Informationen lassen sich aus dem Text herauslesen: Zum einen gibt es die Feststellung, dass ein primitives Leben geführt wird („I love and I live primitive“). Daraufhin wird diese Art des Lebens als gewollt beschrieben („I live a life that is working for me; I’m proud of my life“) und dieses Leben als auch zukünftig angestrebt dargestellt.

That’s fucking all. Keine Bestimmungen von Primitivität, kann man nix machen. Is‘ so… Aber das IPuP möchte sich niemals mit Kann-Man-Nix-Machen-Sagern und Is‘-So-Faschisten verwechseln müssen. Deshalb fangen wir an zu zaubern. Zaubern mit Adorno. Wenn sonst nix mehr geht, dann geht immer noch Kritische Theorie, lautet die Faustregel. Der Teddy wird’s schon richten. Und zwar with a little help of his friends, verkörpert von Herrn Horkheimer und Homer. Wir nehmen uns also die Dialektik der Aufklärung zur Hand und schlagen im Exkurs über die Odyssee den Teil über das Lotosessen [sic] auf. Die Situation ist Folgende: Odysseus ist mit seinen Mitarbeitern auf der Insel der Lotophagen gestrandet. Dort wird ihnen Lotos [sic] angeboten. Dieser hat eine als rauschgiftartig zu beschreibende Wirkung. „Nur Vergessen soll ihm drohen und das Aufgeben des Willens“, schreibt Adorno. Dieser Zustand weist erstaunlicherweise immer auf die Urgeschichte zurück (ergo: Steinzeit), „gleichgültig, welche Fülle der Qual den Menschen in ihr widerfuhr, sie vermögen doch kein Glück zu denken, das nicht vom Bilde jener Urgeschichte zehrte“, so drückt es der Mann von der Frankfurter Schule aus. Es handelt sich um den Wunsch nach einer in die Frühgeschichte projizierten Existenz ohne Arbeit und Kampf. Somit lässt sich im Wunsch nach bzw. Gutheißen von einem primitiven Zustand, wie er sich im Text der Cramps zeigt, ein utopisches Moment finden. So weit, so gut. Aber wer Adorno kennt, der weiß, dass die Geschichten (und die Geschichte) eben leider nie gut ausgehen. Denn das utopische Moment ist nur ein Aufblitzen des Besseren und besitzt keinerlei Dauerhaftigkeit. Durch den Rückfall in die Primitivität ist zwar ein momenthaftes Entkommen aus der verwalteten Welt möglich, jedoch wird der Wille, der Antrieb etwas Besseres (eine menschenwürdigere Welt) zu schaffen, aufgehoben. Einfach gesagt: Mit einer Horde von auf primitivstes Niveau Regredierten wird sich keine lebenswertere Welt schaffen lassen. Auch, da das eigentlich utopische Moment als ein verlorenes, in der Vergangenheit liegendes wahrgenommen wird und eben nicht als zu verwirklichende Idee von Zukunft.

Somit befördert sich der Primitiv-gewordene vielleicht weitestgehend aus der Welt hinaus, jedoch ist in diesem Außerhalb kein wirkliches Glück zu finden. Nur die Abwesenheit von Unglück. Es ist „der bloße Schein von Glück, dumpfes hinvegetieren, dürftig wie das Dasein der Tiere. (…) Glück aber enthält Wahrheit in sich. Es ist wesentlich ein Resultat. Es entfaltet sich am aufgehobenen Leid“, sagt der Herr Adorno.

Deshalb stellt Primitivität wohl keine gute Lösung dar. Was Herr Interior dort erzählt ist zutiefst antiaufklärerisch und affirmativ. Keine bessere Welt mit oder durch Punkrock. Hinvegetieren anstatt anders machen. Systemstützender Unsinn anstatt Möglichkeit der Reflexion. Aber was hast du auch erwartet, Herr Adorno?

Punkiges indoor campen

Dr. Steißleg: Die Idee mit dem Cramps-Song und der Primitivität ist gut. Weniger gut sind die Ausführungen von Frau Prof. Kemp. Denn was Herr Interior da singt, ist ein großes Nein. Eine völlige Ablehnung dessen, was gesellschaftlich als erstrebenswert gilt. Job, Geld, Auto, Haus in der Vorstadt, nett zu den Nachbarn sein, immer fleißig, keine Fehltage, immer alles richtig machen, effektiv sein mit sich und seiner Zeit, etwas leisten und sich moralisch im Recht fühlen, weil man ja so ein guter Mensch ist. Und all seine Verletztheit, seine Schwächen und Zweifel hinunterschlucken. Um später einsam und unmündig in einer Menschenverwahrungsanstalt zu sterben.

All dies verneinte Punkrock schon immer, aber die Cramps verkörpern diese Ablehnung in besonders radikaler Art und Weise durch ihre provozierende Langsamkeit. Ursprünglicher Punkrock war energiegeladen, mag es sich auch um negative Energie gehandelt haben. Dies ist recht kompatibel mit dem, was Adorno das übergreifende Allgemeine und Hegel den Weltgeist nannte, welches auch auf Effektivität und Schnelligkeit ausgerichtet zu sein scheint. Die Langsamkeit der Cramps ist hingegen eine Provokation für den modernen, energiegeladenen Menschen.

Auch ihre angekotzt-gelangweilte Stimmung der Welt gegenüber kommt hierdurch zum Vorschein. Mit diesem Sound lässt sich keine vorrevolutionäre, kämpferische Stimmung erzeugen, kein Sound für Straßenschlachten oder eventuelle Pogrome.

Sondern eine Verführung. Herr Interiors Stimme hat einen Klang von erotischer Abgeklärtheit, eine Leidenschaft, die ohne die effekthascherische Explosion des Punkrock auskommt. Die Langsamkeit ist das ganze Geheimnis der Cramps. Und das lässt sich sogar beweisen. Jene von euch, die über ein Vinylexemplar besagter Musik verfügen können, sollten diese einmal auf 45 rpm hören und staunen. Was da aus den Boxen dröhnt klingt nach gewöhnlichem Punkrock, keineswegs zu schnell.

Bis auf die Langsamkeit haben wir es also mit stinknormalem Punkrock zu tun. Was es denn damit auf sich hat, ist bisher unklar, musikhistorisch und auch in diesem Artikel. An der großen Historie soll heute nix geändert werden, jedoch erscheint es sinnvoll, in diesem Artikel ein paar Anregungen zu geben. Und am besten hat da Greil Marcus drüber geschrieben. In seinem Buch „Lipstick Traces. Von Dada bis Punk – Kulturelle Avantgarden und ihre Wege aus dem 20. Jahrhundert“. Und der Herr Marcus führt dieses Ding namens Punk vor allem auf eines zurück: Die Ablehnung aller Werte, alles Bestehenden. Und trotzdem keine Utopie, No Future, zu bieten haben. So hat der Punk begonnen. Zumindest bei Greil Marcus. Für ihn stehen die Sex Pistols am Anfang. Und Johnny Rottens alles verzehrendes Lachen. Doch dazu an späterer Stelle mehr. Wichtig ist Greil Marcus der Hinweis, dass die Sex Pistols mit „God Save The Queen“ eine Absage an die glorreiche Vergangenheit Englands erteilten. Mit ihrer zweiten Single gingen sie noch einen Schritt weiter. „Anarchy in The UK“ lässt sich als eine Absage an die Gegenwart verstehen. Und No Future erklärt sich von selbst. Es läuft nach Herrn Marcus im Punk (und anderen Avantgardebewegungen des 20. Jahrhunderts) auf die radikale Negation alles Bestehenden hinaus. Dies ist weniger als geistig-begriffliche Negation zu verstehen, vielmehr handelt es sich um ein Ereignis – oder eine Handlung. „Die Negation als Tat macht jedem klar, dass die Welt nicht so ist, wie sie zu sein scheint“, schreibt Greil Marcus. Die oben genannten Singles können als anschauliche Beispiele betrachtet werden.

Wenn für Greil Marcus Johnny Rottens Lachen zu Beginn von „God Save The Queen“ einem allesverzehrenden Dämon gleicht, der alles bisher Gewesene in Schutt und Asche zu legen gedenkt, dann findet sich in Lux Interiors Stöhnen zum Ende des Songs eine vielleicht nicht ganz so radikale, aber dennoch sehr eindringliche Geste. Von erotisch lasziv kippt es in primitiv erscheinende Laute und eine Menge satirischer Momente scheinen auf. Er ist Diva und Hure, er ist verführerisch-weiblich, ohne wirklich homosexuell zu erscheinen, er erscheint befreit von den Kategorien und deshalb beängstigend. Umso enger und massiver das kategoriale Denken ist, umso beängstigender müssen Herr Interior und seine Band wirken. Der richtige Sound für eine trashige Stripbar. Und zu einem ebensolchen Ort scheinen die Cramps den Rest der Welt zu erklären. Das muss dieser primitiv erscheinen, da kultiviert ja nur das ist, was sie ist.

In dem Song findet sich übrigens mehr Adorno, als sich Fräulein Kemp oder der gute Herr Adorno jemals vorstellen könnten… oder wollten. Adorno nannte so ein Verhalten gerne Ressentiment. Den Punk im Adorno hat auch Greil Marcus gefunden. „Wahrscheinlich kann man keine Definition von Punk so weit fassen, dass sie Theodor W. Adorno mit einschließt. Als Musikfreund war ihm Jazz zuwider (…) und die Sex Pistols hätte er zweifellos als Rückkehr der Kristallnacht verstanden, wäre er nicht glücklicherweise 1969 gestorben. Doch in Minima Moralia taucht der Punk alle paar Zeilen auf: Seine ansteckende Abscheu vor dem, was die westliche Zivilisation gegen Ende des zweiten Weltkriegs aus sich gemacht hatte“. Das klingt auch noch Jahre später im Cramps-Song an. Vielleicht nicht auf so revolutionär-neuartige Weise, aber es ist da. Dadurch, dass es Musik ist, spricht es auf einer anderen Ebene als Adornos Texte. Die Botschaft besitzt jedoch einen ganz ähnlichen Kern, nämlich die Negation dessen, was ist. Nur hatte die Punkrockversion der Kritischen Theorie viel mehr Spaß dabei. Hier verläuft eine der stärksten Unterscheidungslinien zwischen Adorno und Punk. Der eine litt unter dem Zustand der Welt. Punk hingegen macht einen großen Witz aus allem. Es ist nicht Art des Punkrock, sich beleidigt ins stille Kämmerlein zurückzuziehen und zu jammern. Punkrock geht hinaus in die Welt und übt sich in der exzessiven Übertreibung der uns umgebenden Hässlichkeit der Welt. Und häufig ist das sehr, sehr lustig.

Das Verneinen der Welt und Spaß dabei, das ist Punk laut Greil Marcus. Adorno plus, sozusagen. Und zu finden auch bei den Cramps und ihrem Lob der Primitivität. Es ist eine Absage an die Welt und eine eindringliche Liebeserklärung an ein Leben, das außerhalb des medial vermittelten Horizonts zu liegen scheint. Deshalb gilt es Fräulein Kemp zu widersprechen und in Lux Interiors Gesang einzustimmen: „Primitive – that’s how I’ll live:“

Prof. Happie: Die Idee vom edlen Wilden gehört auf den Müllhaufen der Geschichte! Gestresst-gelangweilte Europäer projizieren ihr fehlendes Glück in die „Ruhe“ einer Wellblechhütte an einem Fluss und vergessen dabei, dass eine Zahnwurzelentzündung ohne Medikamente und Krankenversicherung nur halb so viel Spaß macht wie gewohnt. Darüber hinaus steht mittlerweile in jeder vierten solcher Hütte ein Fernseher, der es den Bewohnern ermöglicht, ihrerseits den unverwirklichten Traum vom Glück auf die nicht vorhandene Einbauküche zu projizieren. Die Wahrheit (!) ist, es gibt keine Primitivität mehr. Jedenfalls nicht im Sinne eines selbstvergessenen, harmonischen Einheitszustandes des Menschen mit der ihn umgebenden Natur und seinen Mitmenschen. Wenn Gott tot ist, dann hat auch das Paradies geschlossen. Dem „Open 24/7“-Neonschild fehlt der Saft. Dementsprechend ist „I live and love primitive“ eine Lüge, ist ganz und gar nicht primitiv, sondern im Gegenteil hochgradig kultureller Ausdruck, Illusion und künstlerische Erfüllung eines Wunsches, der spätestens dann stark wird, wenn aus Unbehagen an der Kultur Abscheu wird. Unabhängig davon, ob es gefallen mag oder nicht, das Spielen einer elektrischen Gitarre ist ein kulturell hochkomplexer Vorgang, auch wenn nur drei Akkorde genutzt werden. Kein echtes Vergessen oder gar Aufgeben des Willens, kein dionysisch-barbarischer Hexentrank aus Wollust und Grausamkeit, kein „Rückschritt des Menschen zum Affen und Tiger“, auch wenn das Affewerden des Publikums und das Tigerwerden des Sängers Teil der Performance sein mögen. Trotzdem nimmt der Performance-Charakter der angeblichen Rückkehr in die Primitivität der Illusion nicht jegliche Wirklichkeit. Das Überschwemmen, Vermengen, Vermischen der Kategorien findet statt; in dem Ereignis, das der Song darstellt, ist die Negation real, nicht als nihilistisch-destruktiver Akt der Zerstörung, sondern als lebensbejahende Befreiung, die nicht den Wunsch verspürt, ihren durch Meditation im Kämmerlein erreichten Bewegungsfreiraum durch die Idee Gottes auszufüllen, sondern ihn zum Pogotanzen benutzt. In Nietzsches Terminologie haben wir es hier mit einer Art Versöhnung, mit einem temporären Friedensschluss zwischen formgebend Apollinischem und entgrenzend Dionysischem zu tun. Der Hexentrank aus Grausamkeit und Wollust wird hier transformiert zur „wundersamen Mischung und Doppelheit in den Affecten der dionysischen Schwärmer“. Jene von Nietzsche an den Beginn der Tragödie gesetzte Erscheinung, „dass Schmerzen Lust erwecken, dass der Jubel der Brust qualvolle Töne entreisst“, findet sich in Lux Interiors Stöhnen und Jaulen wieder. „Aus der höchsten Freude tönt der Schrei des Entsetzens oder der sehnende Klagelaut über einen unersetzlichen Verlust.“

Dieser Doppelcharakter der Illusion ist es auch, der sie der Dichotomie von Affirmation und Utopie entzieht. Als Ereignis kann sie notwendigerweise keine (materielle) Dauerhaftigkeit besitzen, kann nur Aufblitzen eines Besseren sein. Dass sich dieses Aufblitzen in diesem Fall des Begriffs der Primitivität bedient, spielt insofern keine Rolle, als es sich um eine Maske handelt, zugleich Sehnsucht und Freude, Wunsch und Wunscherfüllung. Daher spricht auch nichts dagegen, in den Gesang einzustimmen. Denn das Aufblitzen, das Ereignis ist in der Lage, zumindest temporär einen Raum zum Pogotanzen zu eröffnen und eine Ahnung einer besseren Zukunft zu ermöglichen. Nur sollten sich keine all zu großen Illusionen über die Illusion einstellen. Um es nochmal deutlich zu machen, seien die letzten Worte zwei Franzosen überlassen: „Natürlich sind Künstler unfähig, ein [neues] Volk zu schaffen, sie können es nur herbeirufen, mit all ihren Kräften.“

(1) Notiz aus dem Sekretariat: Für diesen Artikel des Instituts für Polytoxikomanologie und Perspektivismus wurde nach schwierigen Verhandlungen eine Zusammenarbeit zwischen den Mitarbeitern Happie, Steißleg und Kemp beschlossen. Da die Zusammenarbeit für besagte Institutsmitglieder nicht zufriedenstellend verlief, verlagerten sich diese auf einen sehr intensiv betriebenen Boykott. Zum jetzigen Zeitpunkt halten sich die Autoren auf verschiedenen Erdteilen auf. Aufgrund dieser misslichen Lage und der Institutssatzung (§3, §7) bleibt dem IPuP-Vorstandsgremium keine andere Wahl, als die drei eingereichten Artikel, trotz ihrer eher vagen und etwas beliebig erscheinenden gegenseitigen Bezugnahme, unverbunden auf einander folgen zu lassen.

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