Warum Kritik an der Geisteswissenschaft wichtig ist

Zum Auftakt der neuen Essayreihe zur Kritik an der Geisteswissenschaft gilt es zunächst zu klären, warum Kritik an der Geisteswissenschaft Not tut und was dabei unter Geisteswissenschaft zu verstehen ist.

von Stefan Schulze Beiering, 24.08.2010, 16:46 Uhr (Neues Zeitalter)

Gemeint ist die Kritik an der konkreten universitären Geisteswissenschaft, den geisteswissenschaftlichen Standards in den verschiedenen Fächern, nicht allein an den exponierten Denkern, sondern an der Masse, an dem, was den Studierenden ereilt. Es geht hier nicht nur um Wissenschaftstheorie, sondern darum, wie Geisteswissenschaft in der akademischen Praxis auftritt. Dabei steht nicht die Umstellung des Studiums auf Bachelor und Master zur Debatte; denn sie veränderte die Organisation des Studiums, nicht die Fächer selbst. Das gemeinsame geisteswissenschaftliche Verfahren blieb davon unberührt. Genau dieses Verfahren, der Umgang mit Texten und geistigen Gegenständen, wird hier in Frage gestellt.

Zur Begründung der Kritik

Kritik ist wichtig, weil die Geisteswissenschaften als System der Klugheit auftreten, wenn nicht der Wahrheit; weil sie die geistigen Bemühungen der Studierenden der wissenschaftlichen Zucht unterwerfen und ihn auf ihr Programm verpflichten, ihn also bilden oder verbilden, beeinflussen oder manipulieren, fördern oder behindern. Sie haben Einfluss auf seine geistige Welt und auf das, was er für wahr und klug hält. Sie berühren sein Selbstgefühl und Selbstbewusstsein; bestärken seine Ideale oder Frustrationen. Sie wirken mit an seiner Einstellung zu Beruf und Gesellschaft. In der Ausbildung zum Lehrer ziehen sie ihn zu einem Propädeuten ihrer selbst heran, denn die Schule bildet die Kinder nicht zuletzt im Hinblick auf die Befähigung zu studieren aus.

Geisteswissenschaften verbreiten das wissenschaftliche Weltbild, das bedeutet konkret den wissenschaftlichen Umgang mit Texten. Die Geisteswissenschaften bestimmen so das Textverständnis und die Arbeit der Menschen, die mit Texten umgehen. Weniger linguistisch geturnt: Sie verbreiten ihr Weltbild in Bezug auf Ideen und gedachte Sätze, auf Schlüsse und Interpretationen, zusammengefasst im Begriff der Analyse. Geisteswissenschaftlich geübtes Denken versteht sich als Reflexion, was einen Unterschied macht zu einfachem Nachdenken. Gespräche sind nicht einfach Gespräche, sondern hier Kommunikation und unterliegen bestimmten Regeln und Voraussetzungen.

Die gerade genannten geisteswissenschaftlichen Kategorien – Analyse, Reflexion, Kommunikation – sind längst Allgemeingut geworden, also im Feuilleton der Zeitungen selbstverständliches Vokabular sowie Thema von Volkshochschulkursen und in allen Medien präsent. Das gilt auch für Worte wie Struktur, Prozess, These usw. Der gebildete Mensch redet so. Das ist uns selbstverständlich.

Kritik an der Geisteswissenschaft bedeutet also auch Selbstkritik oder Selbstbefragung; wir sind mit im Spiel und haben alle Vorerfahrung mit Wissenschaft. Es geht bei dem Einfluss der Geisteswissenschaft aber nicht allein um Worte, die wir verwenden, sondern um damit verbundene Einsichten und Vorstellungen, um die Art, wie wir Situationen beurteilen und Dinge sehen – was wir wahrnehmen.

Der Horizont ist geisteswissenschaftlich artikuliert; Geisteswissenschaft ist ein Teil unserer Kultur und unseres kulturellen Vorverständnisses, speziell unserer deutschen Bildung, denn in den angelsächsischen Ländern und auch in Frankreich sind die analogen Bildungseinrichtungen anders verfasst.

Hier geht es also um Selbstkritik und eine Bestandsaufnahme, wie wir ausgebildet sind, um geistig zu arbeiten, oder wie wir lernen, den Abschluss zu machen, und uns dafür in die Geisteswissenschaft einordnen.

Zum Zweck der Geisteswissenschaften

Die Geisteswissenschaften sind ein System der Vergewisserung. Sie wurden entwickelt, um dem Menschen geistige Sicherheit zu geben. Sie wollen Aussagen richtig machen und eigentlich die Wahrheit formulieren. Da dieser Versuch aber als gescheitert gilt, formulieren sie das, was an Wahrheit möglich ist. Sie beschränken sich auf das, was man wissen kann. Dazu geben sie Instrumente an die Hand, die das Wissenswerte oder Sagbare herausschälen. Oder in einem anderen Bilde: Sie filtern ein trübes Wasser so gut, wie es geht, auch wenn es nie ganz klar werden kann.

In diesem Anspruch grenzt sich die Geisteswissenschaft von ihren Vorgängern ab, die sie als Konkurrenten und verfälschende Systeme wahrnimmt. Zum einen ist das der Glaube, der als Theologie im Mittelalter die universitäre Szene beherrschte. Zum anderen ist das die Rhetorik, die in der römischen Antike maßgeblich war und zu den sieben freien Künsten gehörte. Sie blieb als eigene Lehre etabliert, bis die Geisteswissenschaft sie überrollte.

Die letzten rhetorischen Lehrstühle des alten Schlags verschwanden in Deutschland während des 19. Jahrhunderts. Der einzige 1967 in Tübingen wieder eingerichtete Lehrstuhl für Allgemeine Rhetorik ist geisteswissenschaftlich organisiert. Er zielt nicht darauf ab, Rhetorik als Fähigkeit zu lehren, sondern Rhetorik zu beforschen. In ähnlicher Ausrichtung findet sich Rhetorik heute als Teildisziplin oder Teilangebot in einer Reihe von universitären Einrichtungen.

Auch die Theologie hat sich schon lange den Regeln der Geisteswissenschaft angeschlossen. Sie folgte in weiten Teilen den bahnbrechenden Arbeiten von Kant und Hegel und übernahm die entsprechenden geisteswissenschaftlichen Vorstellungen und Verfahren.

Während die Rhetorik vollständig von den Geisteswissenschaften aufgesogen wurde, blieb die Theologie ein Stiefkind, das nicht richtig akzeptiert ist, obwohl es alles tut, um wissenschaftlich sauber zu arbeiten. Das Stiefkind passt aber auch nicht recht in die Familie, denn es fühlt sich seiner eigenen Herkunft verpflichtet, setzt den Glauben voraus und möchte sich dann erst über seine Voraussetzungen vergewissern. Aus geisteswissenschaftlicher Sicht ist das ein Skandalon.

Die Geisteswissenschaft richtet sich also fundamental einerseits gegen den Glauben und andererseits gegen die (rhetorische) Rede. Beide Bereiche haben für sie keine ontologische Berechtigung. Der Glaube ist demnach nichts Seiendes, sondern nur eine Annahme, eine grobe These ohne Beleg und darum wissenschaftlich wertlos oder schädlich. Das betrifft nicht nur religiöse Vorannahmen, sondern alle Sätze und Vorsätze, die einfach geglaubt werden und daher aus wissenschaftlicher Sicht nur subjektive, private Bedeutung haben.

Glauben und Geisteswissenschaft gehen nicht zusammen. Der Glaube muss aus wissenschaftlicher Sicht überwunden werden, und das heißt Aufklärung mittels des Verstandes. Glauben ist dumm oder freundlicher ausgedrückt: naiv.

Nicht naiv ist die gleichfalls verfemte Rhetorik, die dafür den besonderen Anstrich des bösen Buben bekommen hat. Rhetorik betrifft die unmoralische Seite des Menschen. Sie soll nur auf Wirkung aus sein anstatt auf Wahrheit. Ihr Wortschwall verführt zur Leidenschaft; sie betrügt das Volk und verwirrt. Rhetorik und Manipulation gehen Hand in Hand. Rhetorik macht nicht frei, sondern sie nimmt gefangen und instrumentalisiert; nicht nur die Leute, sondern auch die Sprache.

Rhetorik, mehr neutral beschrieben, das betrifft die äußere Form und den betriebenen Aufwand um eine Sache. Sie ist der sprachliche Ausdruck und Redestil gegenüber der Sache an sich. Doch die neutrale Definition hat einen negativen Anhang: Rhetorik putzt sich auf und übertreibt – die Sache dagegen ist bescheiden und spricht für sich. Sachlicher Ausdruck ist keine Rhetorik. Die Geisteswissenschaft hat sich der Sache verschrieben und lehnt darum die als verfälschend empfundenen Mittel der Rhetorik ab.

Rhetorik und Politik, das passt dagegen zusammen und zeigt die Unsauberkeit dieser Systeme. Rhetorik lebt somit nur mehr in der Praxis, weil sie nicht totzukriegen ist oder Gebrauchswert hat oder es einfach anders nicht geht. Darum kann man auch Rhetorikkurse belegen, die man aber bezahlen muss. Aus dem Bildungskanon ist die Rhetorik ausgeschieden.

Vielleicht vermisst mancher bei diesen grundsätzlichen Erwägungen zur Geisteswissenschaft die philosophische Fakultät. Sie tritt heute als geisteswissenschaftliche Disziplin auf und kann nicht notwendig den Vorrang vor anderen Fächern in Anspruch nehmen. Geschichtlich sieht das etwas anders aus. Hier hat die neuzeitliche Philosophie Entscheidendes zur Entwicklung der Geisteswissenschaft beigetragen.

Auch der Rekurs auf die antike Philosophie ist statthaft. Man begegnet den Namen ihrer Heroen, Aristoteles und Platon, in zahllosen geisteswissenschaftlichen Texten. Die abendländische Philosophie folgte ihrer Spur des Rationalen, des Gebrauchs der Vernunft. Was früher nur ein Fluss war, ist heute in ein Meer gemündet, eben das der Geisteswissenschaften. Der Fluss ist ausgeufert.

Zum Auftreten der Geisteswissenschaft

Die Abneigung gegenüber der Rhetorik führte zu einer eklatanten Bevorzugung der Schriftlichkeit, wofür die Universitätsbibliotheken ein Zeugnis ablegen, das aber nicht beredt ist. Geisteswissenschaft, das sind Tausende und Abertausende von Büchern, Aufsätzen und Seminararbeiten, abgefasst in einer eigenen Schriftsprache, die Unkundige so ratlos zurücklässt wie die Formeln mathematischer Systeme.

Der Jargon ist hin und wieder kritisiert worden, bietet aber das Ergebnis der geisteswissenschaftlichen Tradition, sich selbst zu vergewissern. Er ist demnach keine Stilfrage, sondern die Art des Schreibens, die wissenschaftlich überzeugt und unter den Gelehrten anerkannt ist.

Wissenschaftliche Texte sind weniger zum Lesen da, so seltsam sich das anhört, als vielmehr zum Verifizieren auf Papier. Sie sollen nicht einen geistigen Fluss im Lesenden auslösen, sondern seinen Zweifeln standhalten. Sie repräsentieren die kritische Art des Denkens, das sich vielfach umgewendet und befragt hat und zuletzt in den schriftlichen Prozess gerinnt, den der wissenschaftliche Text darstellt. Auch das Wort Prozess ist womöglich zu bewegt vermittelt. Der wissenschaftliche Text ist „rückwärts“ verfasst. Im Bilde setzt man sein Auto in die Garage, anstatt eine Spritztour ins Grüne zu unternehmen. Der Text fährt den geistigen Gegenstand zurück auf seine Basis.

Texte bieten generell, im Unterschied zum aktuell gesprochenen Wort, die Möglichkeit der wiederholten Beschäftigung und Überprüfung. Die Aussage kann wieder und wieder in ihrem Bedeutungsgehalt kontrolliert und nachgemessen werden. Darum ist es auch nur schriftlich möglich, Geisteswissenschaft zu betreiben und die gewünschte Sicherheit herzustellen. An der Universität ist die mündliche Form nur von der schriftlichen abgeleitet, sodass dort die mündliche Sprache ebenso unverständlich oder für Novizen noch abschreckender ist als die schriftliche, weil offensichtliche Menschen wie Aliens reden.

Der außerirdische Eindruck bestätigt sich, wenn ein Anfänger versucht, seine eigenen Gedanken einzuflechten. Dann wird er schnell auf die voraussetzende Technik verwiesen, die die Flüge ins All erst ermöglicht. Es wird ihm geraten, einen Raumanzug anzulegen und die Planetenkonstellation vorab auswendig zu lernen. Ohne extraterrestrisches Wissen ginge es nicht. Und so kommt sich der Neue auf seiner kleinen Erde sehr unreif und kindlich vor.

Photo: Michael Helming

Photo: Michael Helming

Die geisteswissenschaftliche Sprache und ihre Sicherungssysteme sind also nichts für Gäste und nur wenig für Erstsemester. Sie kann nur von ausgebildeten Fachgelehrten verstanden und beurteilt werden. Das bedeutet für den Studierenden: Er muss mit der Sprache ein neues Denken lernen und kann darüber nicht mit seiner alten Sprache und seinem alten Denken urteilen. Er muss seinen akademischen Sprach- und Denklehrern blind vertrauen. Sie sagen ihm, dass ihre Anleitung ihm zu einem klareren Urteil verhelfe. Nur wenn er in wissenschaftlicher Weise formuliert, setzt er für sie ein Zeichen von Klugheit.

Es ist schädlich, die früheren Sinne und Denkweisen zu gebrauchen. Die eigene Einstellung ist abzugrenzen. Hinsichtlich des Erlangens von Scheinen und Noten bis hin zur Habilitation ist wissenschaftliche Nachfolge angesagt, man adaptiert die Sprache und die Einstellung seines akademischen Lehrers.

Geisteswissenschaft bedeutet also Mimikri. Das betrifft auch die Pose, Kritik zu üben, sie gehört dazu. Mimikri bedeutet nicht nur die de-facto-Jüngerschaft bei einem Professor. Sie ist das Credo des schriftlichen Verfahrens, in dem schriftliche Vorgänger verarbeitet werden müssen. Diese fachliche Verpflichtung zur Kopie kann negativ als Entkernung der eigenen Person markiert werden. Es zählt nur die Wiedergabe. In wissenschaftlicher Terminologie: Anstelle des Subjektiven zählt das Intersubjektive, das ist das Etablierte.

Zum etablierten Raum der Geisteswissenschaft gehört die Abschottung von der Außenwelt. Einem Nicht-Geisteswissenschaftler bleibt nur das Achselzucken. Vielleicht schüchtert ihn die akademische Unverständlichkeit ein. Vielleicht fasziniert ihn das Geheimnis, die verborgene Bedeutung. Jedenfalls versteht er nichts. Er kann dazu nichts sagen. Im Umkehrschluss: Die Ergebnisse der Geisteswissenschaft bleiben unbefragt, sie unterliegen keiner äußeren Kontrolle. Gewaltenteilung und Transparenz, die Öffentlichkeit selbst – das ist nichts für die geisteswissenschaftliche Universität.

So sehr sich die Geisteswissenschaft also von demokratischen Strategien fernhält, so nahe stand sie in ihrer Geschichte den totalitären Ideologien. Das betrifft den scharfen Nationalismus des 19. Jahrhunderts bis hin zur Kriegspropaganda beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Das betrifft die Zeit des Nationalsozialismus, wo sich über 500 Geisteswissenschaftler aller Disziplinen zum „Kriegseinsatz“ der Aktion Ritterbusch verstiegen, um eine neue Raum- und Gesellschaftsordnung für das eroberte Europa auszuarbeiten. Das betrifft selbstverständlich die Geisteswissenschaft im real existierenden Sozialismus bis ins Jahr 1989.

Die Geisteswissenschaftler liefen der Ideologie in Scharen entgegen. Sie begriffen ihr eigentliches Geschäft, das Legitimieren von Aussagen, gerne auf der Basis diesseitiger Glaubenssysteme. Das System der Vergewisserung, das die Geisteswissenschaften für sich ausgearbeitet haben, wurde dabei auf den politisch gegebenen Forschungsgegenstand übertragen und professionell durchgeführt.

Heute weist die Geisteswissenschaft den Ideologieverdacht weit von sich; sie sieht sich genau auf der anderen Seite, auf der Seite der Aufklärer. Sie pocht auf die Unverstelltheit ihres Blickes, befreit aus vorgegebenen Bezügen. Selbst die Relevanz gesellschaftlich tragender Werte wie Humanität oder Freiheit für die geisteswissenschaftliche Arbeit ist umstritten. Sie verletzen möglicherweise die gedankliche Autonomie.

Max Weber hatte folgenreich die Wertefreiheit der Wissenschaft propagiert, um sie von der Politik abzugrenzen und den sachlichen Aspekt zu betonen. Der Versuch anderer, eine neue Orientierung, also Werte zu geben, blieb danach problematisch. Denn es folgt sofort die Frage, inwiefern die Wissenschaft dadurch verunreinigt werde. Schließlich gelangt eine nur geglaubte Sache in den Gang der Reflexion. Und jeder Wert kann oder muss wissenschaftlich aufgelöst werden. Werte sind historisch gewachsen und soziologisch determiniert.

Als anerkannte Orientierung hilft da der Blick in die eigene Historie, in die Wissenschaftsgeschichte. Hier findet sich der Grund für die Verpflichtung, das Denken der Vorgänger zu wiederholen, was oben als Mimikri bezeichnet wurde. Es ist ein Ritual, um sich selbst zu kreisen, denn die Drehbewegung hält einen in aufrechter Position. Man versichert sich der Tradition und bestimmt die aktuelle Position der Wissenschaft in ihrem historischen Prozess.

Orientierung findet sich auch im eigenen Fach und seinen Ergebnissen, auf die man stolz ist. Man erklärt sich berufen, ein hehres Erbe zu bewahren und zu mehren, der Hüter eines Schatzes zu sein und zugleich sein Ausgräber. Man verspricht sich geistiges Gold; jeder Fachwissenschaftler schürft in seiner fachlichen Mine. Er glaubt, nur sein spezielles Werkzeug, nur seine spezielle Ausbildung, nur seine spezielle Erfahrung ermögliche das Auffinden des nur auf seinem Gebiet zu findenden Spezialgoldes.

Die geisteswissenschaftlichen Fakultäten haben sich nach ihren geistigen und gesellschaftlichen Bereichen ausdifferenziert: Sprache, Literatur, Gesellschaft, Kunst und Kultur, Religion, Geschichte selbstverständlich. Diese Bereiche bieten auf unterschiedliche Weise einer großen Anzahl an Fächern Nahrung und die Gewissheit, dass sie als Wissenschaft nötig seien. Die eigentliche Orientierung der Wissenschaft findet sich in der Beschäftigung mit dem spezifisch gefassten Gegenstand, aber das ist die Fachwissenschaft selbst, also ein Selbstzweck. Fachwissenschaft verarbeitet, positiv verstanden, das geistige Interesse und den Wunsch, etwas über einen bestimmten Bereich zu wissen. Das Thema bleibt in der Theorie. Es erwächst nicht aus einer praktischen Notwendigkeit oder gesellschaftlichen Nachfrage. Dieses Problem begleitet die Geisteswissenschaft seit langem.

Etwas anders sieht es im Bereich der Rechtsprechung aus, nicht nur wegen seiner uralten Tradition an der Universität. Die juristische Fachwissenschaft hat einige Eigenheiten behalten und sie dient der Ausbildung zum Juristen, die vor Gericht auch gebraucht werden. Als dritte Gewalt gehört die Judikative zum demokratischen Sicherungssystem gegen Diktatur und Unrecht. Nichtsdestotrotz wird hin und wieder die Ferne der akademischen Welt des Fachs von der praktischen Wirklichkeit in der Gesellschaft beklagt. Die übrigen Geisteswissenschaften sind weit von dieser praktischen Relevanz entfernt. Am ehesten gleich käme der Juristerei die Theologie, da sie auf kirchliche Berufe vorbereitet. Sie fällt aber als Wissenschaft quasi aus, da sie zum System des Glaubens gehört. Davon war oben schon die Rede.

Relativ gut hat es noch die Geschichtswissenschaft, da die Frage nach der Wahrheit der Geschichte politisch interessiert und außerdem die Identität der Gesellschaft berührt. Wenigstens interessieren sich die meisten Menschen für ihre Vergangenheit und werden so der geschichtlichen Gelehrsamkeit aufgeschlossen gegenüber stehen.

Die Geschichtswissenschaft konkurriert hier mit dem freien Markt der Verlage und historischen Schriftsteller. Dieser Markt bietet den akademischen Gelehrten den Zugang zur Gesellschaft und lässt die Grenzen zur Wissenschaft durchlässig werden. Insofern also profitiert die Geschichtswissenschaft von einem lebenskräftigen Interesse. Sichtbar ist dieses Interesse auch in Sendungen zu historischen Themen im Radio und Fernsehen.

Bei vielen anderen Geisteswissenschaften sieht das anders aus. Der Medienmarkt für Sprach- und Literaturwissenschaft, für Theater- und Musikwissenschaft, für Soziologie und Kulturwissenschaft ist praktisch nicht existent. Zwar gibt es auch Kulturmagazine und Musikprogramme, aber diese sind weit von der Verwissenschaftlichung an der Universität entfernt. Das Gleiche gilt für Erziehungsratgeber.

So bleiben die allermeisten Geisteswissenschaftler ganz auf sich selbst konzentriert, auf die Erfordernisse ihrer Profession, das Sichten und Verfassen von Texten, ihre Arbeit mit den Studierenden. Die Studierenden erleben ein abgeschlossenes System. Wie will man draußen erzählen, was man tut?

Zusammenfassen lässt sich also, dass die Geisteswissenschaft unter ihrer Abgeschlossenheit leidet oder diese ihr zum Vorwurf gereicht. Daraus abzuleiten wäre zuerst die Forderung, dass die akademische Sprache allgemeinverständlich werden müsste. Sie müsste sich in der Behandlung ihrer Themen den Interessen öffnen, die in der Gesellschaft bestehen und sich bemühen, weiteres Interesse zu wecken.

Das bedeutet: Die Sprache der Geisteswissenschaft muss aufhören, sich zu verklausulieren. Sie muss einen Essaycharakter annehmen, damit jeder ihr folgen kann, wenn er möchte. Dann erübrigt sich die Frage nach einer Orientierung. Dann ist die Frage nach dem Sinn in jeder Veröffentlichung selbst beantwortet. Dann erfüllt die Geisteswissenschaft einen Bildungsauftrag, der sie rechtfertigen kann oder stellt selbst einen kulturellen Wert dar.

Die Geisteswissenschaft müsste ihren Wissenschaftscharakter aufgeben und wieder eine Kunst werden, wie es früher die Rhetorik war. Zunächst würde sie eine schriftliche Kunst, also eine Form von gelehrter Literatur. Sie müsste aufhören, ständig sich selbst zu vergewissern, und die Standards aufkündigen, die ihre Versicherungen darstellen. Gemeint sind damit Methode, Begriff und Beleg.

Wie diese Standards historisch entstanden sind, sich in der Fachsprache abbilden und die geisteswissenschaftlichen Fächer grundlegen, wird das Thema des nächsten Essays sein.

2 Gedanken zu „Warum Kritik an der Geisteswissenschaft wichtig ist“

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