Ein Fallbeispiel für ausgewachsene Geisteswissenschaft

Helmut Danners Buch „Verantwortung in Ethik und Pädagogik“ (Athena Verlag, 2010) versucht, die Erziehung auf philosophische Grundlagen zu stellen, damit Eltern und Lehrer endlich wissen, wie sie aus ihren Kindern Erwachsene machen können.

von Stefan Schulze Beiering, 20.06.2010, 11:00 Uhr (Neues Zeitalter)

Das hier zu besprechende Buch passt in doppelter Hinsicht zum Thema des aktuellen Lichtwolf: Es spricht erstens von Verantwortung als wichtige Kategorie in der Erziehung zum erwachsenen Menschen. Zweitens ist es ein wissenschaftliches Werk, das in gründlicher Überarbeitung nach Jahrzehnten noch einmal aufgelegt wird. Demnach darf es selbst als erwachsen gelten, nicht mehr als jugendlich, wie auch der Autor selbst, Jahrgang 1941, nicht mehr jugendlich, sondern erwachsen und anerkannt ist. Unter anderem verantwortet Helmut Danner einen Einführungsband in die „Methoden geisteswissenschaftlicher Pädagogik“ (bei UTB).

Der Athena Verlag hat jetzt sein Werk, das hier zur Debatte steht, in eine gediegene Form gebracht; wer die Seiten aufschlägt, das Schriftbild sieht, das Papier anfasst, wird als bibliophiler Mensch berührt: ein schönes Buch, anders als die Bleiwüsten vieler geisteswissenschaftlicher Schmöker. Dem Umschlag fehlt allerdings die graphische Gestaltung. Man kann das als Hinweis auf die Inhaltlichkeit dieses Werkes nehmen, denn Bücher werden nicht eigentlich zum Bewundern veröffentlicht, sondern zum Lesen. Insbesondere sollte dies für wissenschaftliche Werke gelten. Jeder weiß aber, dass gerade geisteswissenschaftliche Texte nicht oft lesefreundlich sind, und sie werden auch nicht von vielen gelesen. Von wem überhaupt? Wer will Danners Werk lesen und für wen hat er es geschrieben?

Um es vorweg zu nehmen: Angesprochen ist der akademisch geprägte Intellektuelle einer Tradition, die mit den Namen Gadamer, Jonas und Buber verbunden ist. Das Buch wendet sich an die wertkonservative Fraktion: Der Mensch habe Handlungs- und Willensfreiheit, veredle die Umwelt zur Kultur und ihm eigne daher Verantwortung.

Diese Einstellung verpackt der Autor in ein wissenschaftliches Buch, verschnürt sie also in Begriffsdefinitionen, in historische Herleitungen und in Bezüge gelehrter Literatur. Danner ist der Überzeugung, dass er auf diese Weise die Sache selbst zur Sprache bringe.

Ein potentieller Leser teilt damit zwei Prämissen. Er muss erstens der wertkonservativen Linie folgen, darf also zum Beispiel nicht annehmen, Verantwortung sei der Begriffswerdung nicht wert, da der Mensch eher strukturverhaftet sei. Mit anderen Worten, wer glaubt, der Mensch sei mehr durch die materiellen Voraussetzungen, etwa die Gene, das Essen, die Umwelt geprägt, anstatt durch persönliche Verantwortung, der wird dem Buch Danners nicht folgen wollen, egal wie erwachsen es aussieht.

Die zweite Prämisse, die ein potentieller Leser teilen muss, ist die Liebe zur Wissenschaft, speziell zur akademisch geprägten Geisteswissenschaft deutscher Provenienz. Der Leser muss wissenschaftliches Schreiben richtig finden. Er muss es mögen und von der Notwendigkeit überzeugt sein, die Ergebnisse für unabweisbar halten. Vom platonischen Dreiklang des Wahren, Guten und Schönen muss ein Leser wenigstens die ersten beiden Töne für wissenschaftlich halten. Danner selbst ist vom Wahren und Guten seines Werkes vollständig überzeugt.

Für das Gute garantiert sein zentraler Begriff der Verantwortung. Böse wäre dagegen eine „verantwortungslose Pädagogik“ (S. 13). Verantwortung sei eine immer schon gegebene Tatsache, die somit in der Theorie zu würdigen sei, damit die Trennung von Praxis und Theorie überwunden werde. Wer dies nicht nachvollziehe, sei nicht einsichtig. Er tue dies vermutlich, weil ihm der Begriff noch zu vage geblieben sei.

Somit kommt dem Buch Danners das Anliegen zu, den Begriff zu klären, um das Gute – die Verantwortung – wissenschaftlich nachweisbar zu machen. Hier kommen wir zum Wahren, das Danner glaubt auszusprechen. Wenn es ihm gelingt – und es gelingt ihm natürlich – Verantwortung dem Prozess der Gelehrsamkeit zu unterwerfen, dann muss sie Geltung haben, auch für die erzieherische Praxis. Zwar kommt sie schon aus der Praxis, wie er sagt, aber er meint mit der erzieherischen Praxis jetzt das reflektierte pädagogische Handeln von Erziehern und Lehrern. Zuvor handelten sie zwar auch schon verantwortlich, automatisch und von der Natur der Sache her, aber eben nicht durch Gelehrsamkeit unterstützt.

An dieser Stelle wird der geplagte reale Vater ein erstes Stirnrunzeln einwenden; er muss der Mutter zur Seite stehen, die gerade eine Krise wegen Schlafmangel durchwacht – oder dem Kind erklären, dass man bei Tische nicht mit Essen wirft – oder am Fußballplatz stehen, um seinem Sohne etwas von der Selbstsicherheit zu geben, die andere stumpfdreist mitbringen – oder bei Schularbeiten helfen, deren Sinn er nicht erkennen kann – oder versuchen, ein Mensch zu bleiben, obwohl er als Vater eine ständige Rolle zu spielen hat, die Rolle der Verantwortung eben, die sich auch in Anweisungen ergeht und darin verschwinden kann. Was mag ihm da der gelehrte Nachweis helfen, dass Verantwortung wissenschaftlich in Ordnung sei?

Mir egal, wird er denken, aber einen akademischen Autor wie Danner ficht das nicht an. Er glaubt an die praxisunterstützende Seite seiner Arbeit. Und so bezieht sich der Autor auf Vorgänger, die die Verantwortung als philosophisches Prinzip beworben haben. Er nennt Namen wie Gadamer, Buber, Jonas, aber auch Goethe und Kant, Max Weber und Sartre, Pestalozzi und manche jüngere, jetzt aber schon wieder ältere Erziehungswissenschaftler. Gegen die Trennung von Wissenschaft und Moral wendet er sich, indem er sich hier von Descartes und Herbart sowie von ihren Nachfolgern, besonders Seiffert, absetzt.

Zur weiteren Sicherung seiner wissenschaftstheoretischen Position sucht er seinen Ort im historischen Prozess und beginnt natürlich bei Adam und Eva der abendländischen Geistesgeschichte, den Griechen, hier Sophokles und Aristoteles. Auch die Wortgeschichte von Verantwortung wird kurz angetickt. Man darf ja nichts vergessen.

Dann beginnt die eigentliche Begriffsarbeit. Danner hat es richtig vor: Verantwortung soll nicht nur ein geklärter Begriff werden, sondern in den Rang einer leitenden Kategorie gehoben werden – woran wir feststellen, dass noch immer die alte Vorlage von Kant Gültigkeit hat, nach der man allgemeingültige Kategorien erarbeiten kann; und das konkrete Leben wird in Abhängigkeit von diesen Kategorien gedacht.

Bei Kant waren das die Leitsätze des kategorischen Imperativs – auf den sich Danner auch bezieht – viel wirkungsmächtiger für die Geisteswissenschaft waren aber die Kantischen Kategorien aus der Kritik der reinen Vernunft, wegen ihrer Deduktion des menschlichen Geistes auf feststehende Sätze. Danner folgt dem Modell automatisch, indem er selbst deduziert und zur Verantwortung als einer zentralen Kategorie in der Erziehung gelangt.

Inhaltlich habe ich da keine Einwände: Natürlich ist Verantwortung wichtig. Jeder Erwachsene muss sein Leben selbst verantworten und darum muss die Erziehung nicht nur verantwortlich sein, sondern verantwortlich machen, indem sie den Kindern möglichst viel zutraut. Andererseits sind Grenzen wichtig und über das Thema gibt es mit der Supernanny schon eine Serie.

Verantwortung ist in der Kindheit an Vertrauen gebunden und die Voraussetzung für persönliche Freiheit. Nur wer sich selbst in die Hand nimmt, ist frei. Verantwortung bedeutet also auch eine Sprengkraft gegenüber alten Bindungen, und damit meine ich ausdrücklich alle Bindungen, sowohl gesellschaftlich wie geistig. Der Mensch muss seine Erziehung selbst übernehmen, wenn er in die Pubertät geraten ist, und das kann er in dieser Zeit nur, wenn er vorher eine verantwortliche Erziehung gehabt hat, sodass er Vertrauen zu sich hat und Grenzen, das sind eigentlich andere Menschen, anerkennt.

Hat man Vertrauen zu sich selbst, kann man auch neue Bindungen eingehen und Verantwortung für andere übernehmen. So entstehen starke Gebilde wie neue Familien und Eltern- Kind-Beziehungen, die das Vertrauen weitergeben, so gut, wie sie eben können. Im Idealfall erzeugt verantwortliche Erziehung starke Persönlichkeiten, deren Freiheit schon in der Kindheit entstanden ist, denn sie wurden, im Rahmen ihrer Kindheit, immer als freie Menschen behandelt.

Photo: Tom Benz

(Photo: Tom Benz)

Der Versuch, Kategorien einzuführen, wie Danner es in seinem Buch tut, erinnert mich eher an die Mentalität des 19. Jahrhunderts. Das fühlt sich nach Gesetz und Ordnung an und nach dem Ausführen von Anweisungen. Es ist auch so gemeint: Die Erziehung soll dem theoretisch gesicherten Prinzip der Verantwortung folgen. Dass Prinzipienreiter nicht die besten Erzieher werden, sollte man dabei im Hinterkopf haben. Also ist der praktische Effekt vielleicht gar nicht wünschenswert. Danner möchte womöglich selbst keine Vorschriften machen. Nehmen wir daher das Buch lieber als reine Theorie.

Theorie birgt immer die Gefahr, zu schwadronieren oder Selbstverständliches zu sagen und damit belanglos zu sein. Das gilt besonders für dicke theoretische Bücher. In Danners Fall bejahe ich als aktiver Vater von vornherein das Prinzip Verantwortung, brauche also keinen Exkurs darüber. Als geistig interessierter Mensch könnte mich der Gedankengang ansprechen. Aber da gibt es nichts Neues. In anderen Formulierungen nutzt er das bekannte Vokabular der Geisteswissenschaft, insbesondere den inflationären Begriff der Struktur: Strukturanalysen sollen die volle Struktur der Verantwortung entfalten (S. 57). Das bringe dann die Sache selbst zum Vorschein.

Das Vokabular von der Sache selbst darf man als gewagt bezeichnen, denn in der Wissenschaftstheorie und auch in der tatsächlichen geisteswissenschaftlichen Arbeit ist das Wort Sache durch das Wort Problem abgelöst worden. Man glaubt nicht mehr daran, wirkliche Sachen objektiv darstellen zu können, sondern an das Lösen von wirklichen Problemen auf sachliche Weise. Um mir eine Bemerkung zu gestatten, sagt man nicht mehr Elephant, sondern Rüsseltier, und meint damit vielleicht auch einen Tapir. Ebenso sagt man heute nicht mehr objektiv, sondern zum Beispiel intersubjektiv – und man sucht nicht mehr die Wahrheit, sondern nur das Wahrscheinliche. Danner hingegen gehört noch ganz zur alten Generation und ist auf rührend überkommene Weise wissenschaftsgläubig.

Modern geblieben ist aber, wie er seine Anschauung abbildet. Er entwirft einige Schemata, die die geistige Ordnung repräsentieren sollen, in welcher der Begriff der Verantwortung aufgehoben und differenziert wird. Apropos Differenzierung: Danner unterscheidet zwischen einer juridischen Form der Verantwortung – so viel wie Pflichtgefühl – und einer existentiellen, die aus der Freiheit kommt und den Menschen eigentlich erst erwachsen macht.

Schemata zeigen die so gemeinte Struktur der Sache idealtypisch auf, daher sind sie auch in der aktuellen Geisteswissenschaft beliebt. Wenn man es kritisch sieht: Sie sind eine Zusammenstellung von Vokabeln aus bestimmten Bedeutungsfeldern. Sie bilden Über- und Unterordnungen – oder Nebenordnungen. Verbindungslinien zeigen Verbindungen. Das Bedeutsame soll man sich denken.

Für Danner ergeben sich aufgewiesene Zurechnungsstrukturen. Daran sieht man, dass der Begriff der Struktur für ihn so viel wie die Sache an sich bedeutet. Also, Sachen sind strukturiert und Strukturen sind sachlich. Sie muss man finden und aufzeichnen können. Auf diese Weise ergibt sich der wissenschaftliche Beweis: Verantwortung ist eine Kategorie, das heißt hier zwei: juridische und existenzielle.

Interessanter für einen Philosophen ist der Anfang des Gedankengangs, den der Autor offen und ehrlich darlegt. Er sagt, seine Vorliebe für Verantwortung sei nicht gesichert, weil die Frage nach der menschlichen Freiheit und die Frage nach dem Wesen der Person strittig seien. Die grundlegenden Normen und Werte seien nicht allgemeingültig zu klären. Er gibt an, auf philosophisch schwankendem Boden zu stehen. Bisher seien nur vorläufige, persönlich gefärbte Antworten möglich. Auf gesicherte Grundlagen möchte er aber nicht warten und trotzdem mit der Konstruktion der wissenschaftlichen Kategorien zur Verantwortung beginnen, denn die Not sei groß: „Es muss heute erzogen werden“ (S. 21)

Das Buch ist dennoch nicht, meinte ich oben, für die Praxis des Erziehens geeignet, da es nicht konkret genug auf die alltäglichen Probleme des Erziehens eingeht. Es versichert nur allgemein die Prinzipien der Verantwortung. Diese allgemeinen Prinzipien stehen in der Praxis wiederum nicht in Frage. Verantwortung übernimmt ein Erzieher automatisch und ungefragt. Das Buch ist also einerseits kein konkreter Ratgeber, andererseits ein Exkurs über Selbstverständliches.

Theoretisch soll es eine Grundlage bieten, die aber ihrerseits keine Grundlage hat. Denn, so sagt Danner, die grundlegenden Fragen zum Wesen des Menschen seien nicht geklärt.

De facto sind diese Grundlagen aber längst klar. Sie sind im demokratischen Menschenbild festgeschrieben und Teil unserer Verfassung. Wir glauben an die Person, an persönliche Rechte und die persönliche Freiheit.

Ähnlich wie ein Erzieher automatisch verantwortlich handelt, handelt ein Mensch automatisch persönlich. Die philosophische Unsicherheit über grundlegende Werte ist aus praktischer Sicht fingiert. Was soll das? Die Gesellschaft gesteht uns alle Rechte zu, aber theoretisch sollen sie nicht befestigt sein? Obwohl ich so fühle und handle?

Wenn wir dennoch die Aussage zur Relativität aller Werte ernst nehmen, dann bleibt auch Danners Exkurs zur Verantwortung relativ. Die Grundlage ist schwankend, er sagt es selbst. Also schwankt das ganze Gebäude, das er baut. Der Systematik entbehrt der Standpunkt. Eine Annahme kann nicht Gewissheit hervorbringen. Hier ist der Wunsch der Vater des Gedankens.

Was wir an diesem Fallbeispiel für geisteswissenschaftliche Bücher lernen können: Für die Praxis sagen sie entweder Selbstverständliches oder Unnötiges. Für die Theorie bieten sie nichts Überzeugendes. Sie befüllen einen Zwischenraum, den weder der Gründe suchende Philosoph noch der Rat suchende Mensch braucht.

Das Buch Danners ist für diesen Zwischenraum geschrieben, der überflüssig wäre, aber tatsächlich existiert. Die wissenschaftliche Pädagogik beeinflusst den professionellen Bereich der Erziehung. In dieser Hinsicht könnte es dann doch eine praktische Relevanz entwickeln, zum Beispiel im Hinblick auf die Ausbildung von Lehrern, die wissenschaftlich unterfüttert ist. Hier kämpfen die unterschiedlichen Modelle um Einfluss und Übersetzung in den Schulbetrieb. Danners wissenschaftliche Position votiert für die persönliche Verantwortung. Man kann sie gegen andere Positionen stellen, die Lernen als Prozess initiieren und planbar machen wollen. Im konkreten Schulbetrieb wäre der Lehrer nach Danners Lesart mehr selbstverantwortlich als an Lehrpläne gefesselt. Man bräuchte in der Schule weniger verbindliche Vorgehensweisen – und das wäre schön.

Danners Wissenschaft expliziert aber Verantwortung als allgemeingültigen, schriftlichen Akt. Damit wird die eigentliche Gegenposition zur Freiheit der Person befördert, die formal anerkannte Vorgabe, die entpersönlichte Lesart. Ein Mensch, meine ich, sollte sich davon fernhalten.


Lichtwolf Nr. 30

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