Vergessen, um zu überleben

von Fitzgerald Löhrmann

 

34.1, F33, F.32.2 und F41.1 – meine Diagnose laut ICD-Code. Zur Erläuterung:

F34.1: Anhaltende und meist fluktuierende Stimmungsstörungen. Da sie jahrelang, manchmal den größeren Teil des Erwachsenenlebens, andauern, ziehen sie beträchtliches subjektives Leiden und Beeinträchtigungen nach sich. Gelegentlich können rezidivierende oder einzelne Episoden eine anhaltende affektive Störung überlagern.

F33: Rezidivierende depressive Störung. Charakterisiert durch wiederholte depressive Episoden (F32.-). Das Risiko, dass ein Patient mit rezidivierender depressiver Störung eine manische Episode entwickelt, wird niemals vollständig aufgehoben, gleichgültig, wie viele depressive Episoden aufgetreten sind. Bei Auftreten einer manischen Episode ist die Diagnose in bipolare affektive Störung zu ändern (F.31.-)

F32.2: Schwere depressive Episode mit quälenden Symptomen. Typischerweise bestehen ein Verlust des Selbstwertgefühls und Gefühle von Wertlosigkeit und Schuld. Suizidgedanken und -handlungen sind häufig.

F41.1: Generalisierte Angststörung. Die Angst ist generalisiert und anhaltend. Die wesentlichen Symptome sind variabel, Beschwerden wie ständige Nervosität, Zittern, Muskelspannung, Schwitzen, Benommenheit, Herzklopfen, Schwindelgefühle oder Oberbauchbeschwerden gehören in dieses Bild. Häufig wird die Befürchtung geäußert, der Patient selbst oder ein Angehöriger könnten demnächst erkranken oder einen Unfall haben.

 

Doch ich habe Glück im Unglück: Im Gegensatz zu Menschen, die an einer bipolaren Störung, einer Psychose oder einer Schizophrenie leiden, bin ich mir meines krankhaften Zustandes bewusst und büße auch in einer schlimmen Phase meinen Verstand nicht ein. Ich laufe nicht Gefahr, mich vor meinen Freunden als Gottes Krieger auf Erden auszugeben oder mit Schmuck behangen in der Gegend herumzulaufen und zu verkünden, ich sei der Nachkomme von Ramses III. Solche Menschen tummeln sich in den geschlossenen Stationen von Psychiatrien. Sie sorgen für Erheiterung, schockieren ihre Mitmenschen und zerstören oftmals jede Struktur in ihrem Leben. Freundschaften, Familie und Beruf gehen den Bach runter, der Verstand klinkt sich aus.

Menschen mit Depressionen und Angststörungen sind meist unspektakulär und für die Mitmenschen nervig bis besorgniserregend. Auf der Geschlossenen landen sie in der Regel nur nach einem missglückten Selbstmordversuch oder aber wenn sie aufgrund ihrer Grunderkrankung medikamenten-, drogen-, oder alkoholabhängig werden.

Gemeinsam jedoch ist all den soeben angesprochenen Krankheiten, dass im Hinterkopf ein Gedanke bleibt: Es kann wieder anfangen. Jede innere Regung wird interpretiert: Ist das ein Anzeichen für einen möglichen Ausbruch? Ist meine Wahrnehmung verzerrt? Ist meine Reaktion normal? Innerlich wartet man geradezu auf die nächste Episode.

Um den Alltag bewältigen zu können, ist es wichtig, zu vergessen, dass man auf dünnem Eis geht und man theoretisch jederzeit einen Rückfall erleiden kann. Ein Rückfall kann ernst oder leicht, lang oder kurz sein. Er kann lange vorbereitete Pläne über den Haufen werfen, wochenlange Arbeit zunichte machen und ist nicht kontrollierbar.

Vergessen bedeutet hier, eine Kontrolle aufzugeben, die man eh nie hatte. Durch ängstliches Beobachten der eigenen Befindlichkeit kann man keinen Ausbruch vermeiden. Der Ausbruch kommt früher oder später. Es gilt, die Zeit bis dahin zu nutzen. „Mach dir keine Gedanken“, hört man gerne, wenn man über die Angst vor einem erneuten Ausbruch spricht.

Es gibt unterschiedliche Vergessens-Theorien. Gemeinsam ist ihnen, dass das Vergessen in den Kontext der Persönlichkeit eingebettet ist und die Zeit alleine keinen Faktor für Vergessen darstellt. Es passiert nicht „einfach so“, gehört aber zu den Aufgaben des Gehirns genauso wie das Lernen: Vergessen eine Aufräumleistung des Gehirns. Veraltete Informationen werden von aktuellen überlagert, was die Anpassung an veränderte Lebensumstände ermöglicht. Informationen bleiben präsent, wenn sie häufig benötigt werden. Das Gehirn ist kein Computer: Nervenstrukturen werden nicht gelöscht, sondern lediglich deaktiviert. Die synaptischen Verbindungen bleiben auf Abruf bereit. „Vergessen“ wird also, was momentan nicht wichtig ist. Eine Erfahrung, die nur schwer gelöscht wird, ist Angst. Sie ist für jedes Lebewesen von elementarer Bedeutung, da sie hilft, das Überleben zu sichern. Daher muss sie mit einer solchen Wucht einschlagen. Man stelle sich einmal vor, die Gattung „Maus“ verliert über Nacht ihre Angst vor Raubtieren. Arterhaltungstechnisch ist der Verlust von Angst eine Katastrophe. Die Erfahrung von Angst bleibt aus diesem Grund fest im Bewusstsein verankert. Sie darf nicht vergessen werden.

Dies macht deutlich, dass Vergessen nicht einfach geschieht sondern an ein Bündel von Bedingungen geknüpft ist. Diese Bedingungen sind bei einer Krankheit allerdings nicht gegeben. Die Krankheit bleibt im Bewusstsein, da sie sich immer wieder zeigt und gemeinsam mit der Angst auftritt. Die Krankheit bedingt Angst, Angst nährt die Krankheit. Neue Erfahrungen können sie nicht überlagern. Die Angst ist und bleibt präsent.

Man stelle sich einen giftigen Skorpion vor, der sich vor langer Zeit ins eigene Leben geschlichen hat. Vor einer Ewigkeit hätte man ihn fangen können, jetzt aber ist er unter ein großes Möbelstück gekrochen und zeigt sich ohne Vorwarnung und ohne System. Die eine oder andere Dosis seines Giftes hat man schon kosten können und so bleiben keine Zweifel darüber, welcher Abgrund droht. Mit diesen lebendigen Erinnerungen an Schmerz, Verzweiflung, den Geruch von Krankenhaus in der Nase, endlosen Gesprächen mit Ärzten und Psychologen im Ohr starrt man in die Ecke, wo sich das Tier verkrochen hat. Ängstlich lauert man, bildet sich ein, sein trocken klackerndes Getrippel zu hören.

Es wird dunkel. Der Schlaf bleibt aus. Stattdessen Grübeleien darüber, was er wohl gerade treibt und welche Schneisen er in die mühsam aufgebaute Stabilität des Geistes schlagen wird. Das Herzrasen, das Zittern und die zugeschnürte Kehle halten wach. Bereitet er den Angriff vor? Wird er zustechen mit der Konsequenz, dass Wochen nötig sind, mich von seinem Gift zu erholen. Oder war sein Erscheinen nur ein Säbelrasseln, eine Demonstration seiner Macht über mich und meine Gedanken? Ja, ich bin schwach. Ich kann ihn nicht vergessen und beuge mich damit seiner Tyrannei.

Lichtwolf Nr. 29 („Vergessen“)

Experten raten, die Krankheit anzunehmen. Einen Sachverhalt anzunehmen bedeutet, ihm seine Besonderheit zu nehmen, seine Abnormität zu vergessen und den zurechtgestutzten Umstand in das eigene Leben eingliedern.

In vielen Momenten lebt man so, als existiere der Skorpion nicht. Dies kann gelegentlich einfach sein, wenn er kein Lebenszeichen von sich gibt. Manchmal aber kommt Paranoia auf, übertriebene Wachsamkeit. Ein Lauschen auf die leisen kratzenden Geräusche, die seine Beine auf dem Fußboden machen. Hektisch und schnell. Dann gefriert das Blut in den Adern: Er ist zurück. Es ist zurück. Geschockt hält man inne, konzentriert sich, ob man ihn lokalisieren kann und es gelingt, herauszufinden, in welcher Absicht er kommt und wie lange er zu bleiben gedenkt.

Man geht eine Symbiose mit ihm ein. Der Peiniger wird zum Gefährten, der das Leben um Schmerz und Abhängigkeit bereichert und ihm eine zähe Konsistenz verleiht. Er braucht nicht erst Teil der eigenen Person zu werden, da er aus ihr entstanden und damit untrennbar mit ihr verbunden ist. Ihn ablehnen, ist Selbstablehnung. Ihn hassen führt unweigerlich zu Selbsthass. Ihn töten bedeutet Selbstmord.

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