Lebende und Leichen

Eine Lichtwolf-Rubrik: wo sie steht, woher sie kommt, wohin sie will

von Michael Helming

 

Der Herausgeber dieser Zeitschrift bemerkte vor einigen Jahren in einem Brief: „Eine gute Rezension ist mindestens so viel wert wie das Werk selbst.“ Damit hat er nicht einfach nur einen schönen und richtigen Satz ausgesprochen, sondern zugleich ein redaktionelles Statement artikuliert: Der Lichtwolf legt Wert auf eigenständige Köpfe, denen nicht Literatur allein, sondern auch die Form der Besprechung – die für meine Begriffe stets den Gedanken als kunstvolles Element der Abschweifung beinhaltet – etwas anderes und wertvolleres bedeutet als konsumentenkonform aufbereitete Information, Götzendienst am Klischee und lesbar freudlose Normerfüllung in den Bereichen Recherche und Sprache.

Als der Verlag neue Serien im Heft forderte, legte ich im Oktober 2008 meine Gedanken hierzu offen: „Auf den Seekarten der Literaturkritik erscheint vor meinen Augen eine Rubrik, die von mehreren Autoren bedient und dann von einer Hand zur festen Route kombiniert wird, wobei eine Mischung aus kleinen Texten zur einen Hälfte aktuelle Neuerscheinungen und zur anderen Klassiker behandeln könnte. Wenn man für so einen Bereich einen griffigen Titel findet, wie z. B. sinngemäß „Lebende & Leichen“, wobei eine derartige Formulierung offenlässt, ob sie sich auf die Lebensdaten der besprochenen Autoren bezieht oder nicht doch auf den Inhalt ihrer Werke, könnte dies für einen gewissen Unterhaltungswert bürgen.“

Schon vier Wochen später konnte ich dem Herausgeber auf seine Einladung hin antworten: „Um Lebende & Leichen möchte ich mich gerne kümmern. Vielleicht wird in der ersten Ausgabe – passend zum Titelthema – Werbung für verdrängte oder vergessene Klassiker gemacht.“ Wie der Leser weiß, wurde die Serie mit einem Beitrag über Borges eröffnet. Der sprengte noch das Lichtwolf-Limit von 20.000 Zeichen, wurde dementsprechend radikal gekürzt und konnte erst im vergangenen September in voller Länge als Sonderheft erscheinen. Obwohl ich mich nach wie vor darüber wundere, dass Autoren die Frechheit besitzen, zu durchaus interessanten und komplexen Themen Texte von manchmal kaum 3.000 Zeichen einzureichen, so akzeptiere ich derweil umgekehrt: Der Gipfel des Mount Everest misst lediglich 8.848 und keine 9.100 Meter; und genauso stoppt die Lichtwolf-Redaktion Höhenflüge ihrer Autoren bei spätestens 20.000 Anschlägen.

Inzwischen erschien in dieser Serie aus meiner Feder ein Artikel zu Chamissos Briefkultur sowie (in vorliegenden Ausgabe) zum Werk des umtriebigen Dunkelmannes Hanns Heinz Ewers. Der Herausgeber selbst steuerte ein einfühlsames Memorandum über Wolfgang Harich bei und natürlich gab es bislang bei jedem Namen vorwurfsvolle Fragen innerhalb der Redaktion: „Wieso denn ausgerechnet der? Den kennt doch nun wirklich jeder!“ Ich möchte an dieser Stelle einmal deutlich darauf hinweisen, wie weit der Weg zu echter Kenntnis eines Autors sein kann. Wie viele Menschen schreien heutzutage bereits „Kenn‘ ich!“, obwohl sie grade einmal irgendwo den Namen eines Autors aufgeschnappt haben? Ja, es scheint heutzutage vielen Zeitgenossen durchaus möglich, einen Autor zu kennen, von dem sie keine einzige Zeile gelesen haben. Eine peinliche Praxis, der verständlicherweise entschieden entgegengewirkt werden muss und eben dazu will die Rubrik „Lebende & Leichen“ ihren Teil beitragen. Die hier besprochenen Autoren können sowohl gänzlich in Vergessenheit geraten als auch dem Namen nach durchaus noch geläufig sein. In letzterem Fall sind sie dann oft nur für eine bestimmte Sparte ihres Schaffens bekannt. Borges beispielsweise für seine Mischung aus Kurzgeschichte und Essay, Chamisso für Gedichte und eine Reise um die Welt. Folglich liest man im Lichtwolf also etwas mehr über Borges‘ Privatleben oder Chamissos Briefwechsel. „Lebende & Leichen“ ist die andere Seite der Literatur und wenn diese sich auch noch harmonisch ins Titelthema einfügt, umso besser.

Dieser Idee anhängend, werden wir noch viele Autoren besprechen; irgendwann sicher auch die erste Autorin, denn wir wollen hier auf keinen Fall mit Robert Graves sagen: „Die Frau ist kein Dichter: entweder sie ist Muse, oder sie ist nichts.“ Wir warten auf die richtigen Beiträge. Vielleicht einige Gedanken zum Arbeits- und Lebensverhältnis zwischen Sylvia Plath und Ted Hughes. Abhandlungen über Victoria oder Silvina Ocampo oder aber auch zum Werk der Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft, deren Tochter bekanntlich den Frankenstein schrieb. Nicht allein eine Frauenquote gilt es zu erfüllen. Auch bei den Herren warten noch interessante Themen. (Welche frankophile Seele bringt z. B. Details zu Erckmann & Chatrian?) Die Literaturgeschichte ist ein großer Friedhof der (Un)Toten. Es gibt genug Moos von den Grabsteinen zu kratzen.

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