Kleiner Auszug aus dem „Lexikon der zu Unrecht vergessenen Persönlichkeiten“

Die Geschichte ist voll von großen Persönlichkeiten. Zu manchen von ihnen schaut die Welt noch nach Jahrhunderten bewundernd auf. Andere hatten einen schlechten PR-Berater und gerieten in Vergessenheit. Auf dass zumindest einigen der letzteren historische Gerechtigkeit widerfahre, seien sie hier vorgestellt.

von Magister Maier

(Photo: Michael Helming)

Dr. Dragan Binder (geb. 1977) ist ein Konfliktforscher und Aufputschmittelhistoriker aus Berlin, der diese beiden scheinbar so weit auseinander liegenden Fächer auf penetrant-ölige Weise miteinander verbindet. In seiner bahnbrechenden Doktorarbeit aus dem Jahr 2009 wies er nach, dass Staaten, die von dauerbedröhnten Cliquen enthusiastischer Marihuana-Konsumenten regiert werden, niemals Krieg gegeneinander führen.
Da das Lexikon der zu Unrecht vergessenen Persönlichkeiten nicht nur ausgewiesene Spezialisten ansprechen soll, sondern auch nach der Aufmerksamkeit alberner kleiner Groupies heischt, darf nicht verschwiegen werden, dass Dr. Dragan Binder noch immer in jenem Berliner Stadtbezirk lebt, in dem er vor etlichen Jahren von seiner Ex-Freundin am Straßenrand ausgesetzt wurde. Seine liebste Freizeitbeschäftigung sind proktologische Spezialuntersuchungen. (Termine bitte nur nach Vereinbarung.)

 

Johann Nepomuk Häberle (1806-1848) gilt als der mit Abstand unbegabteste Oboist, der jemals in einem Staatsorchester spielte. Er ist der bislang einzige Holzbläser, der von seinen Mitmusikern mit Pauken und Trompeten erschlagen wurde.

 

Wolfgang Balthasar Häberle (1800-1870) gilt als der mit Abstand korrupteste Dirigent, dem jemals die Leitung eines Staatsorchesters übertragen wurde. Seit dem tragischen Tod seines jüngeren Bruders Johann Nepomuk Häberle im Jahr 1848 hielt er sich ununterbrochen in den Schweizer Bergen auf, wo er es sich trotz einer sehr zurückgezogenen Lebensweise nicht nehmen ließ, diverse Alphornvereine vollständig zu korrumpieren.

 

Dass die Germanistik kein Fach für geistlose Schwätzer und sprachferne Skribbler sein muss, sondern auch von klugen Menschen auf intelligente Weise betrieben werden kann, bewies der Göttinger Gelehrte Gerd Molch (1929-2005), der von seinen zahlreichen akademischen Verehrern und vor allem Verehrerinnen gern „der Lust-Molch“ genannt wurde; was natürlich keinesfalls als Anspielung auf das überaus rege und in nur allzu vielen Fällen allzu deutlich von der Norm abweichende Sexualleben Molchs zu sehen ist, sondern vielmehr einen neckischen Verweis auf seine genialische Habilitationsschrift „Lust und Last beim reifen Goethe. Der Dichter-Fürst als Porno-Graf“ darstellt. Auf jenes frühe Meisterwerk also, das nur zwei Jahre nach der Erstveröffentlichung in überarbeiteter, stark popularisierter Form erschien und unter dem neuen Titel „Der alte Ficker Goethe“ erstmals auch der breiten, sämigen, ja bisweilen schmierigen Masse einen Zugang zum großen Weimarer Klassiker eröffnete.

Neben dem Ficker-Buch, das bevorzugt einhändig gelesen wird, aber leider nur noch in schäbigen Antiquariaten erhältlich ist, schrieb Molch mehrere Dutzend weitere Werke. Besonders hervorzuheben sind „Kafka und die Kiffer“, eine Aufsatzsammlung, die sich dank einiger raffiniert eingearbeiteter Geheimverstecke größter Beliebtheit bei Rauschmittelkonsumenten erfreut, sowie der ehrgeizige Versuch über den Kulturphilosophen Walter Benjamin, der unter dem Namen „Benjamin, Blümchen“ zu einem echten Kassenschlager avancierte – nicht zuletzt aufgrund einer eiskalt eingeplanten Verwechslung mit einer beliebten Kinderhörspielserie.

Das letzte große Buch, das Molch veröffentlichte, war „Hildesheimer war kein Hildesheimer“, ein ausführlicher Nachruf auf Wolfgang Hildesheimer, den Verfasser des maßgeblichen Werks über Ekkehard Golch, dessen neunbändiges Opus magnum Leben und Werk James Boswells, des bedeutenden Biographen Johnsons, des unsterblichen Lexikographen, behandelt. (1)

 

Jean-Baptiste Monrepos (1724-1769) war vermutlich einer der größten Artisten aller Zeiten. Nachdem er sich zunächst einige Jahre lang als Flammenschlucker versucht hatte, konzentrierte er seine Kräfte spätestens ab 1746 auf die damals neue Disziplin des Kunstliegens, die dank ihm einen gewaltigen Aufschwung erfuhr. Da die Ars accubandi jedoch schon bald nach Monrepos’ Tod aus der Mode kam und um 1800 bereits beinahe so vergessen war wie er selbst, lässt sich heute nicht mehr genau sagen, worin die herausragenden Fähigkeiten dieses Mannes eigentlich bestanden. Als gesichert gelten kann jedoch, dass Monrepos zu gewissen Zeiten einfach nur rumlag, und zwar tagelang.

Der Forscher Fischer hat gezeigt, dass es 1759 zu einem Zwischenfall kam, bei dem es Monrepos gelang, eine ganze Weile schnaufend auf Madame de Pompadour zu liegen. Ob es sich bei diesem bemerkenswerten Ereignis um eine Form des Kunstliegens handelt, ist in der Literatur allerdings umstritten.

 

Der Grazer Ehrenbürger Alfred Pawenzer (geb. 1935) hatte bereits eine mittelmäßig verlaufene Karriere als Hammerwerfer und eine hammermäßig verlaufene Karriere als Mittelstürmer hinter sich, als er 1967 eine neuartige Kunstform entwickelte, auf deren Gebiet er in den folgenden Jahren zahlreiche Weltbestleistungen erzielte. Noch heute werden 25 der insgesamt 37 offiziell anerkannten Rekorde im Bereich des Andere-Menschen-unbemerkt-beim-Essen-Beobachtens von ihm gehalten, darunter auch derjenige in der Königsdisziplin, dem sogenannten 3-Sterne-Starren.

Auf alle Meisterleistungen einzugehen, mit denen Pawenzer in den siebziger und achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts Aufsehen erregte, ist im Rahmen des Lexikons der zu Unrecht vergessenen Persönlichkeiten nicht möglich.

Unbedingt der Erwähnung bedarf jedoch, dass sich unter denjenigen, die Pawenzer unbemerkt beim Essen beobachtete, 118 Minister, 62 Regierungschefs, 11 gekrönte Häupter und 2 Päpste befanden.

Kaum weniger bemerkenswert erscheint, dass Pawenzer bei einer geschätzten Gesamtzahl von 11.337 Beobachtungen lediglich viermal enttarnt wurde.

Alfred Pawenzer ist seit Mitte der neunziger Jahre verschollen. Das Gerücht, wonach sein plötzliches Verschwinden damit zusammenhängt, dass er seine Aktivitäten auf das Raubtiere-unbemerkt-beim-Fressen-Beobachten ausgedehnt und sich in dieser Kunstform als überraschend ungeschickt erwiesen habe, will nicht verstummen.

 

Verfluchte der große Arthur Schopenhauer auch z. B. Hegel als einen „die Köpfe durch beispiellos hohlen Wortkram von Grund aus und auf immer desorganisierenden Philosophaster“, so rückte er seinen Gegnern doch niemals mit Gewalt zu Leibe. Einen entscheidenden Tritt weiter ging da Andreas W. Schande (1932-2007), der sich als philosophischer Hooligan unschätzbare Verdienste um das moderne Denken erworben hat. Schande, dessen Karriere eher zufällig damit begann, dass er 1957 – zur klammheimlichen Freude Horkheimers – den Küchenpimpf (2) des Instituts für Sozialforschung verprügelte, war zunächst an diversen westdeutschen Universitäten tätlich. Erste Meriten verdiente er sich, indem er Gadamer ohrfeigte (Wintersemester 1959/60), Joachim Ritter in den Magen schlug (Sommersemester 1960), Otto Friedrich Bollnow eine reinsemmelte (Sommersemester 1961) und in weiser Voraussicht auch schon den damals noch recht unbekannten Günter Rohrmoser mit einer ansatzlos geschlagenen rechten Geraden niederstreckte (Wintersemester 1961/62).

Das Jahr 1963 markiert einen ersten Höhepunkt und zugleich die Kehre in Schandes Wirken. Während er sich in Tübingen aufhält, um dort Ernst Tugendhat zu überfallen, entdeckt er in der Bibliothek des Philosophischen Seminars sein großes Lebensthema: den Hass auf den zuvor gleichsam nebenher verachteten Heidegger, den er bereits wenige Wochen später dreimal erfolgreich bespuckt. Als es Schande im Herbst ’63 auch noch gelingt, Helmut Schelsky und Arnold Gehlen in die Nieren zu treten, werden einige Spitzel aus der illegalen BND-Abteilung Fremde Heere Ost auf ihn aufmerksam und planen einen Mordanschlag. Vom KGB gewarnt, kann Schande gerade noch rechtzeitig in den Ostblock flüchten.

Was Schande von 1964-1969 treibt, ist weitgehend unerforscht und bietet Spielraum für wilde Spekulationen. Dass er aber – um hier nur ein Beispiel anzuführen – tatsächlich etwas mit der biologischen Endlösung des Naziphilosophen Alfred Baeumler (1968) zu tun hat, scheint eher unwahrscheinlich.

1970 kehrt Schande über Ungarn, wo er noch schnell Georg Lukacs würgt, in den Westen zurück und leitet dort die produktivste Phase seines destruktiven Schaffens ein. In rascher Folge bricht er Althusser die Nase, schlägt Chomsky krankenhausreif, prügelt Lacan im Zweivierteltakt durch den Tanzsaal und tritt der jungen Kristeva so lange gegen das Schienbein, bis sie laut um Gnade quorrt.

Zurück in Deutschland, lauert er kurz darauf Hermann Lübbe und Odo Marquard auf, die allerdings beide mit harmlosen körperlichen Verwarnungen davonkommen; ganz im Gegensatz zu Heidegger, der bei seiner denkwürdigen zweiten Begegnung mit Schande im Jahr 1972 Dresche bekommt wie kaum je ein Seiendes zuvor.

Im Sommer des Jahres 1973 setzt Schande seinem Werk die Krone auf. Während eines kurzen Arbeitsaufenthalts in Paris trifft der philosophische Hooligan innerhalb eines einzigen Monats beinahe alle führenden Schwatzbacken aus dem Dunstkreis des Poststrukturalismus. Und wie er sie trifft! Balibar bekommt was auf die Fresse, Baudrillard einen Fußtritt ins Gesicht. Deleuze zwickt Schande ins Gekröse und Irigaray sogar in – na ja, Sie wissen Bescheid. Foucault, Guattari sowie Lyotard bekommen ebenfalls die Fäuste der Kritik zu spüren, und Derrida wird sogar dekonstruiert. Beim brutalen Angriff auf Roland Barthes verliert Schande kurzzeitig die Kontrolle über sich selbst: Nur durch das rasche Eintreffen des Notarztes kann der Tod des Autors verhindert werden.

Schandes späte Schaffensjahre stehen ganz im Zeichen der Auseinandersetzung mit seinem alten Erzfeind, „dem Blödmann aus Todtnauberg“ (Philosophiegöttin Tanja Hötzle), dem er noch sechs- bis siebenmal auf Holzwegen begegnet. Als Heidegger am 26. Mai 1976 schließlich den Folgen der letzten dieser Begegnungen erliegt, ist Schandes Mission erfüllt. Er zieht sich für immer ins Privatleben zurück.

Obwohl heute nur noch wenigen Kennern ein Begriff, hat Andreas W. Schande (Blut-)Spuren in der Philosophie des 20. Jahrhunderts hinterlassen wie kaum ein anderer. Wie sehr er dem modernen Denken fehlt, erkennt man immer dann, wenn Sloterdijk den Mund aufmacht.

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