Ich bin ein Dichter und kein Prophet

Kennern gilt Hanns Heinz Ewers (1871-1943) als wichtiger Vertreter deutschsprachiger Phantastik im 20. Jahrhundert. Zu Lebzeiten Bestsellerautor und berüchtigt für manch bizarre Grässlichkeit, schert sich der Buchmarkt heute leider nur wenig um ihn.

von Michael Helming

(Photo: Michael Helming)

Der Berliner Bezirk Tiergarten im September 1941. Auf dem Balkon seiner Wohnung in der Corneliusstraße steht des Nachts ein knapp siebzigjähriger Mann und schaut Russen und Briten beim Bombenwerfen zu. Dabei fängt er mit dem Allerwertesten einen Granatsplitter, die Wunde blutet stark und er muss einen Arzt konsultieren, dem er seine Verletzung wie folgt erklärt: „Herr Doktor, ich habe ein Loch im Arsch.“ Darauf beruhigt der Mediziner, dies sei nichts Besonderes, er selbst habe auch eines und die dabeistehende Schwester kann bestätigen, ihr ginge es genauso, worauf der Mann nun behauptet, er habe zwei Löcher im Arsch, was den Doktor dann doch erstaunt. Auf eine genauere Untersuchung der Anomalie möchte letzterer allerdings verzichten. Er schlägt vor, nach dem Krieg damit im Zirkus aufzutreten. Der Held dieser Anekdote, eben jener einst höchst umtriebige Schreiber und Weltenbummler, Hanns Heinz Ewers, er entfernt sich den Splitter am Ende selbst.

Beruflich ist Ewers zu dieser Zeit erheblich eingeschränkt, sein Werk in Deutschland verboten, da der Verfasser laut Gesamtprüfung „eine Neigung und Veranlagung zur Widernatürlichkeit“ hat. Zumindest steht „neuem Schaffen“ laut Reichskulturkammer angeblich nichts im Wege. 1943 erscheint dann auch noch ein Band mit Erzählungen, der allerdings neben älteren Texten nur drei bis dato unveröffentlichte enthält. Seinen 70. Geburtstag ignoriert die Öffentlichkeit und für das neue Buch gibt es weder Werbung noch Rezensionsexemplare. Goebbels könnte Schwierigkeiten machen. Ohnehin ist Ewers inzwischen schwer krank. Abgemagert bis auf sechzig Kilo, verfällt er zunehmend. Chronischen Raucherhusten hat er jahrzehntelang schon, dazu wohl Angina Pectoris und Tuberkulose. Am 12. Juni 1943 stirbt er in seiner Wohnung, vermutlich an einem Lungentumor. Sechs Tage später verbrennt man die Leiche im Krematorium Berlin-Wilmersdorf und überführt die Asche an Ewers‘ Geburtsort Düsseldorf.

Bis ins Jahr 1934 fährt Hanns Heinz Ewers mit den Nazis recht gut. Er kennt Hinz und Kunz in der Partei, hat eine Audienz bei Hitler, der ihm vorschlägt, einen Roman über Horst Wessel (wohl ebenfalls mit Ewers bekannt) zu schreiben. Das Buch wird jedoch gleich als Erstes seiner Werke verboten. Der Filmfassung ergeht es nicht besser. Sie kommt 1933 aber immerhin noch parteikonform bearbeitet in die Kinos. Die Volksgenossen in der NSDAP gehen zunehmend auf Distanz, vermutlich nicht nur wegen der unerhörten Scheußlichkeiten in seinem berühmt-berüchtigten Oeuvre. Ewers ist zwar Rassist, aber eben kein Antisemit. Bereits 1916 veröffentlicht er den Artikel „Why I Am a Philosemite“. Darin kommt er auf seine bereits zwischen 1905 und 1912 entwickelte Theorie zurück, nach der in einem sogenannten Kulturstaat die deutsche und die jüdische Rasse gemeinsam die Elite der Welt bilden sollen. (Man stelle sich Hitlers cholerische Reaktion auf so eine Rassenlehre vor!) Ewers rückt von seiner prosemitischen Haltung zeitlebens nicht ab und verhilft einigen jüdischen Freunden zu einem Ausreisevisum. Nationalist bleibt er jedoch und als solcher beginnt er bereits Ende der Zwanzigerjahre damit, bei Überarbeitungen älterer Texte Fremdworte durch deutsche Entsprechungen zu ersetzen. Ohnehin wimmelt es in seinen Arbeiten seit jeher (besonders in den Reiseberichten) von Negern, Kanaken, Kaffern und Zitronennegern (=Chinesen) sowie von detaillierten Bewertungen europäischer und anderer Völker, was damals nicht ungewöhnlich ist: Political Correctness wird erst später erfunden. Noch sind Rassismus und Nationalismus internationaler Standard und grade dem nationalen Wahn setzt Ewers 1931 mit seinem Propaganda-Roman „Reiter in deutscher Nacht“ die Krone auf.

 

Den deutschen Studenten gewidmet, beginnt die Handlung dieses pathetischen Schinkens im Mai 1921 in Oberschlesien und sie endet gut zehn Jahre später in Königswinter am Rhein. In den Wirren des zusammengebrochenen Reiches entsteht – mit Ewers gelesen – in den Reihen der Freikorps – allen Machenschaften von Polen und Kommunisten zum Trotz – ein nationalsozialistischer Geist, der letztendlich das geknechtete und ums nackte Leben kämpfende Deutschland von den Folgen des Versailler Vertrages befreien soll. Tatsächlich schreit einem aus Ewers unsäglichem Heldenkäse nackter politischer Frust entgegen: Unter anderem lässt er eine Mutter nicht aus Kummer um ihre gefallenen Söhne sterben, sondern „weil Lothringen welsch wurde“. Neben stolzen Kämpfern fährt der Roman tüchtige Krankenschwestern wie Pia auf: „Mittelgroß, schlank eigentlich; aber vorn und hinten gab´s was zu sehen. So ein richtiger strammer Pummel (…) rotwangig wie eine Kuhmagd.“ Die Sehnsucht nach der Ankunft des großen Führers wird bereits auf Seite 59 erstmals konkret artikuliert. Handwerklich fällt partiell eine gewisse Übermacht an wörtlicher Rede auf, die zumindest meinen Lesefluss hemmt. Wenn mir „Reiter in deutscher Nacht“ überhaupt irgendwas vermittelt, so eine gewisse Idee von den Mechanismen, die 1945 Flucht und Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten bewirkten. Folgt man Ewers – dem Remarques „Im Westen nichts Neues“ gar nicht gefallen haben soll – könnte man meinen, der Erste Weltkrieg sei aus den Köpfen heraus, trotz Waffenstillstand und Kapitulation, einfach weitergegangen. Die Freikorps stemmten sich im Baltikum und in Polen derart verblendet und unversöhnlich ihren „Feinden“ entgegen, man müsste für die Zeit nach 1945 ähnliche Zustände erwarten beim Versuch, Deutsche in den Ostgebieten in eine ihnen „feindliche“ Gesellschaft zu integrieren. Für die Vertriebenengeneration ist die Tatsache „Flucht“ eine erlebte Katastrophe und ihre Art und Weise ist zweifellos eine menschliche – selbst in meiner Familie existieren noch Anekdoten von der Ausreise der Urgroßeltern aus dem Sudetenland – und dennoch: falls der Hass zur Stunde Null auch nur annähernd so groß gewesen sein sollte, wie er sich vierzehn Jahre zuvor in Ewers Text spiegelt, dann musste eine radikale Trennung der Völker unvermeidlich sein, um endlich Ruhe in Europa zu schaffen. Wie immer man darüber denkt, „Reiter in deutscher Nacht“ bildet inhaltlich wie sprachlich den absoluten Tiefpunkt in Ewers Schaffen.

 

Als Autor von Nazi-Propaganda ist Ewers selbst Teil eines dämonisch-verbrecherischen Systems, allerdings von ihm zugleich künstlerisch verschlissen. Wenige Jahre zuvor sind das Dämonische und die tiefsten Abgründe der menschlichen Seele noch Quelle für hochwertige Schöpfungen. Vor allem auf nebulöse Art böse Frauenfiguren vermag Ewers genial zu erschaffen. Die bekannteste dürfte „Alraune“ sein: schön, seelenlos und faszinierend tödlich. Durch künstliche Befruchtung einer Hure mit dem Samen eines hingerichteten Verbrechers gezeugt und auf der Leinwand von großen Diven wie Brigitte Helm (1928) oder Hildegard Knef (1952) verkörpert. Bei seinem Erscheinen (1911) sorgt der Roman „Alraune“ für einen Skandal, was ihm eine große Leserschaft beschert. Kaum zehn Jahre später liegt die Auflage bei 240.000 Exemplaren und es gibt Übersetzungen in fast dreißig Sprachen. (Dank der seinerzeit hohen Auflagen kann man Bücher von Hanns Heinz Ewers heute meist recht günstig im Antiquariat erstehen. Gute Neuausgaben sind leider nach wie vor Mangelware!) Dem Vorwurf des voyeuristisch-reißerischen entkommt Ewers nie, obwohl seine unheilvollen Frauen es durchaus mit denen Edgar Allen Poes aufnehmen können: verstört, geschunden, psychisch labil oder schlicht und ergreifend tot. Ewers ist ein großer Poe-Verehrer und möchte in Rezensionen gern mit ihm oder mit E.T.A. Hoffmann verglichen werden. Zumindest Karl Kraus hustet ihm (Die Fackel, Nr. 368, S. 11-12, 1913) was, liest seine Bücher angeblich nicht einmal. Allerdings gibt er an selber Stelle zu: „wußte ich, daß dieser Autor beliebt und dämonisch sei, am Ganges zu Hause wie an der Panke, und als Vertreter angesehener Verlagsfirmen sogar bis ins Jenseits vorgedrungen. Ein transzendenter Weinreisender.“ Damit wird er Ewers sicher nicht ganz gerecht, denn der studierte (wenn auch keinesfalls überzeugte) Jurist steht der jenseitig-mystischen Welt durchaus mit Augenzwinkern gegenüber. Er ist zwar Mitglied spiritueller Vereinigungen, betreibt in jungen Jahren Hypnose zur Steigerung des sexuellen Lustgewinns und ist ab 1915 mit Aleister Crowley bekannt. Er fällt jedoch bereits 1895 als Medium durch gewisse Übertreibungen auf, löst dadurch einen pressewirksamen Skandal aus und nennt Spiritisten „dumme und traurige Kerle“. Für seinen Roman „Der Zauberlehrling“ von 1909, in dem es um religiösen Wahnsinn geht und in dem unter anderem eine Schwangere gekreuzigt wird, darf sich Ewers sogar als Anti-Mystiker rezensieren lassen. Trotzdem gilt er Kraus als „Commis voyageur ins Transzendente“ (Die Fackel, Nr. 341, S. 37, 1912), außerdem allenfalls als der „dämonische Schriftsteller, Kinopionier und Vater des ‚Wundermädchens von Berlin‘, dem er sich nun als Wunderknabe von Berlin an die Seite stellen darf.“ (Die Fackel, Nr. 398, S. 11, 1914). Damit würdigt Kraus – obwohl ironisch zu lesen – Ewers‘ Verdienste um das neue Medium Kino, besonders um den Autorenfilm, für den er zu einem Förderer und ersten Drehbuchlieferanten wird. Sein „Student von Prag“ ist ein Meilenstein der Filmkunst. Ewers macht eigentlich alles: Kabarett, Vorträge, Märchen, Kinderbücher, Bühnenstücke, Libretti, Drehbücher, Romane, Gedichte, Feuilleton, Essay und tausend Dinge mehr, an die sich ein Durchschnittsleser unserer Tage nicht mehr erinnert.

 

(Illu: Georg Frost)

Der Erzähler Ewers fasziniert durch seine dunklen Vorahnungen, die Moderne und das 20. Jahrhundert betreffend, obwohl er sich nie als Visionär, sondern eher als Romantiker sieht. Zahllose Themen unserer Zeit entdeckt er oder greift sie als einer der Ersten auf: Mit der Kurzgeschichte „Die Tomatensauce“ nimmt er bereits 1905 das Splatter-Genre vorweg. Zwei Menschen zerhacken einander wie Kampfhähne. Der Roman „Fundvogel“ (1927) beschäftigt sich mit Geschlechtsumwandlungen. Über allem schwebt eine morbide Untergangsstimmung, sowohl in der Sprache, die oft im Umfeld von Adel und Großbürgertum angesiedelt ist und deren steife Umgangsformen wiedergibt, als auch in einer bis 1914 unbekannten Dimension von Gewalt und Blutdurst, die derart mythisch und ritualisiert pervers daherkommt, als wollte sie sich selbst zur gesunden Norm menschlichen Handelns erklären. So wird im Roman „Vampir“ (1920), der zu Beginn des Ersten Weltkrieges spielt, Blut aus aufgeschnittenen Brüsten getrunken. Die seltsame Krankheit eines deutschen Mannes kann erst durch das Trinken vom Blut einer jüdischen Frau geheilt werden. Eine Handlung, die man als Vorahnung des Holocaust lesen kann.

 

Oft zerfällt das Alte ohne seine Schönheit einzubüßen. Es kann dabei wörtlich nur auf bildhafte Weise in Erinnerung bleiben. In der Erzählung „Die Herzen der Könige“, dienen getrocknete Leichenteile französischer Monarchen einem Maler als Grundstoff für seine Farben und als Schnupftabak. Diese Geschichte spielt auf manche Weise mit Geschichte, mit Generationen von Herrschern und Künstlern. Ewers mischt Väter und Söhne in Gestalt der Maler Martin und Michel Martin Drolling, die er verfremdet, indem er ihnen ein „l“ stiehlt, denn auch Namen können zerfallen, wobei sie sich wandeln. (Ewers‘ Vater war übrigens ebenfalls Maler.) Perfektioniert werden Verfall und Untergang immer wieder in Gestalt von Frauen: entweder zart und zerbrechlich oder aber kalt und bedrohlich. Die bildschöne Millionärstochter „Eileen Carter“ (1928) schenkt ihren Körper dem Mann, der die Leiche ihres Vaters ausgräbt, der als Selbstmörder an einer Kreuzung verscharrt liegt. Das Indianermädchen Teresita gehört einem Stamm in Mexiko an („Die blauen Indianer“, 1908), der durch Peyote-Konsum ein unglaubliches Gedächtnis entwickelt hat. Im Rausch spricht das Kind plötzlich Niederdeutsch – was außer dem Erzähler alle für Spanisch halten – und offenbart so Vorfahren aus dem Rheinland. Im selben Band („Die Besessenen“) treibt eine Frau namens Clarimonde allein durch ihre – am Ende doch fragliche – Existenz Männer in den Suizid. Clarimonde aus der tagebuchartigen Erzählung „Die Spinne“ ist ein Beispiel für die morbid-romantische Schönheit, mit der Ewers seine Protagonistinnen ausstattet. Sie trägt schwarze Haare in Wellenlocken, ist ziemlich bleich, auch ihre Lippen. Die Nase ist schmal und klein. Ihre „Lider schatten tief, aber wenn sie sie aufschlägt, leuchten ihre großen, dunklen Augen.“ Sie trägt stets ein schwarzes geschlossenes Kleid; große lila Tupfen sind darauf. Und immer hat sie lange schwarze Handschuhe an. Heutzutage würde man sie demnach dem Emo- oder Grufti-Look zuordnen.

Über Edgar Allan Poe schreibt Ewers 1905 eine verträumte Monographie. Er nähert sich seinem Vorbild bei einem Spaziergang zur Alhambra, denkt an Goethe und Baudelaire, kommt dann auf seinen Poe, auf den Alkohol, die künstlerische Ekstase des Rausches, auf das Paradies der Qualen, denn, so schreibt er, „ein Kunstwerk ist nie ohne Schmerzen geboren worden“. Wie tief Hanns Heinz Ewers gerade Poes „Philosophy of Composition“ verinnerlicht haben muss, machen zwei weitere Frauen deutlich, die ohne Abstriche für den oft zitierten Satz „Der Tod einer schönen Frau ist wahrlich das poetischste Thema der Welt.“ stehen:
Die kleine, herzkranke Aenny aus „Die Topharbraut“ (1907) und natürlich Stanislawa D´Asp. Aenny besucht ihren Freund, den Erzähler, in seinem möblierten Zimmer, das er erst kürzlich angemietet hat. Ebendort erleidet sie einen Schwächeanfall. Der Erzähler macht sich auf, einen Arzt herbeizuholen. Als er zurückkehrt, ist sein Mädchen verschwunden und auch Mitbewohner Beckers kann ihren Verbleib nicht erklären.

Dieser Herr Beckers ist ein netter Mensch, nur gestattet er niemandem, sein Zimmer zu betreten und er bekommt regelmäßig seltsame Pakete, in denen sich tote Katzen befinden. Der Erzähler soll seine Aenny später völlig unerwartet wiedersehen. Sie befindet sich im Museum, als Mumie, in voller Schönheit einbalsamiert, für die Ewigkeit. Von der kranken Muse (Wie auch Poe sie in seiner Virginia hatte!) zum Doppelwesen aus antiker Skulptur und Auto-Ikone. Nicht verwesend, doch zugleich blutleer und tot, zwischen Ewigkeit und Nichts oszillierend. Das Bezaubernde, vor dem Verfall bewahrt und von jedermann ungestraft anzusehen. Ewers setzt hier die erotische wie ästhetische Dimension, die unsere Kultur der Verbindung zwischen Frau und Tod eröffnet, von der unschuldig liebevollen Seite her um. In „Der letzte Wille der Stanislawa D´Asp“ (1908) bearbeitet er dasselbe Thema unter dem Aspekt übel gesinnter Schönheit. Graf Vincenz d´Ault-Onival verliebt sich in die unehelich geborene Jüdin Lea Lewi, die als Prostituierte den Künstlernamen Stanislawa D´Asp trägt. Sie liebt ihn nicht, verhöhnt ihn pausenlos, doch er ist ihrer Schönheit rettungslos verfallen. Schließlich überredet er die inzwischen unheilbar Erkrankte doch noch zur Heirat und „ihr Leben war nun ein Gefäß für einen kostbaren Inhalt: den Glauben an seine große Liebe.“ Bald nach der Hochzeit geht sie mit dem besten Freund des Grafen fremd. Dieser zieht sich jedoch bald zurück. Erst ein paar Jahre nach Stanislawas Tod kehrt er ins Schloss seines Freundes zurück und wird dort in einen Schwur eingeweiht. Stanislawa pflegte ihren Körper während der letzten Lebensphase mit rätselhaften Substanzen und kurz vor ihrem Tod trat sie zum Christentum über, um ihren Gatten zur Erfüllung ihres letzten Willens zu zwingen. Der sieht vor, ihre Leiche exakt nach drei Jahren aus dem Sarg zu nehmen und vor Sonnenuntergang in der Schlosskapelle in eine Urne umzubetten. Der Graf und sein Freund nehmen also die Exhumierung vor, stellen dabei jedoch fest: Der Körper der Gräfin hat sich nicht zersetzt und liegt da wie eine „Prager Porzellanglasur“. Da er in diesem Zustand in keine Urne passt, ist der Graf gezwungen, den Körper, den er so sehr geliebt hat, mit eigenen Händen zu zerstören und die Leiche lächelt ihn natürlich auch noch heimtückisch-lieblich an, als er die Axt schwingt.

 

(Illu: Georg Frost)

Unzählige weitere Weibsbilder des Grauens könnte man nennen: Voodoo-Priesterinnen, Feen und Hexengestalten. Dazu so manche unglückliche Liebesgeschichte, wie die des nekrophilen Totengräbers Stephe, der auf das Sterben seiner großen Liebe wartet. Die junge und hübsche Gladys Paschitsch wird auch tatsächlich von einer Seuche dahingerafft, doch die ersehnte Hochzeitsnacht in der Leichenhalle platzt, denn sie verfügt testamentarisch ihre Überführung ins Krematorium inklusive Einäscherung. Für den sich vor Sehnsucht verzehrenden Stephe natürlich „Der schlimmste Verrat“; 1922 in der Sammlung „Nachtmahr“ enthalten.

 

Ewers selbst ist zwei Mal verheiratet. Seine erste Frau unterstützt er, genau wie seine Mutter, zeitlebens finanziell. Ohnehin ist er nicht geizig, setzt sich für verarmte Schriftstellerkollegen wie Paul Scheerbart ein. Der Individualist Ewers macht schon Anfang des 20. Jahrhunderts FKK auf Capri und entdeckt dabei gleich noch eine Höhle. Er verehrt auch Oscar Wilde, setzt sich für die Legalisierung von Homosexualität ein, säuft kräftig, raucht Marihuana und lässt zeitweise vermutlich kaum ein Drogenexperiment aus. 1906 bevorratet er sich in Mexiko mit Peyotl, gewöhnt sich später an Meskalin. Um 1903 steigt er in den Konsum von Opiaten ein. Bilder aus den Dreißigerjahren zeigen ihn mit Opiumpfeife und glasigen Augen. In seinem Essay über „Rausch und Kunst“ aus dem Jahr 1906 behauptet er unter anderem, dass es „für ein künstlerisches Schaffen kaum einen wichtigeren Faktor geben kann, als der durch ein Narkotikum hervorgerufene Rausch.“ Irgendwann soll Ewers an akustischen und optischen Halluzinationen sowie an wahnhaften Wahrnehmungsstörungen leiden.

 

In Wilfried Kugels Biographie „Der Unverantwortliche“ kann man sich umfassend über die vielen Baustellen informieren, auf denen Ewers arbeitet. Als Reiseschriftsteller ist er weltweit unterwegs, arbeitet für eine Vielzahl von Zeitschriften in mehreren Ländern, veröffentlicht ein populärwissenschaftliches Buch über Ameisen, schreibt neben Filmdrehbüchern auch Musikdramen und Hörspiele, beendet (obwohl man ihn dafür nicht liebt) Schillers Fragment „Der Geisterseher“, produziert den ersten Kino-Werbespot für ein Buch, gewinnt einen Schönheitswettbewerb, hat eine uneheliche Tochter und immer wieder Skandale, Prozesse und andere Streitigkeiten am Hals. Sein Lebensweg kreuzt sich mit denen vieler bedeutender Geister seiner Zeit, darunter Ernst von Wolzogen, Bruno Wille, Erich Mühsam, Paul Haase, Robert Reitzel, Paul Wegener, Walter Rathenau oder Max Reinhardt, um nur einige wenige zu nennen. Im Kaiserreich und der Weimarer Republik ist Hanns Heinz Ewers eben bekannt wie Schusters Lumpi. Den Ersten Weltkrieg verbringt er in den USA, macht dort Propaganda für Deutschland, dichtet Kriegslieder, hält Bismarck-Reden und wird 1915 in eine Affäre um gefälschte Pässe verwickelt. Durch den Dienst fürs „Fatherland“ kommt Ewers nicht nur ins Internierungslager, sondern auch mit der Bagage in Kontakt, die später den Nazionalsozialismus mitzuverantworten hat, unter anderem mit Franz von Papen oder Ernst Hanfstaengl.

 

Was für ein unglaubliches Leben voller Höhen und Tiefen, möchte man ausrufen! Ewers selbst ist, gerade am Ende, wohl ein wenig skeptischer, was sein Lebenskonzept angeht. Die letzten Worte im Beisein seiner Sekretärin lauten angeblich: „Jennylein, was war ich für ein Esel.“

Im November 1943 zerstört ein Bombentreffer Ewers‘ Wohnung. Alles, was nicht in den bereits 1938 zusammengestellten Nachlass geflossen oder von seiner zweiten Frau in Sicherheit gebracht worden ist, geht innerhalb einer einzigen Nacht in Schutt und Asche der Reichshauptstadt ein: sämtliche Papiere, Antiquitäten und Kunstgegenstände sowie die Bibliothek.


Eine Langfassung dieses Essays findet sich im Sammelband „Leichen treppauf“ von Michael Helming.

Schreiben Sie einen Kommentar