Die größte Bratwurst der Welt: Das Internet

Gedächtnis der Menschheit oder Globalamnesie qua information overload?
Fritz Schirrmann kommt nicht mehr mit und hat deswegen das Drehbuch zum Mel Gibson-Film „Payback“ geschrieben. Aber wie verhält es sich nun wirklich mit diesem unendlichen Datenfluss? Macht er uns vergesslich oder superfit obenrum? In der ersten Folge der neuen Reihe „Die größte Bratwurst der Welt“ geben fünf Lichtwolf-Autoren ihren Senf zu dieser Frage ab!

von Bdolf, Magister Maier, Michael Helming, Timotheus Schneidegger, Tina Wirtz, 21.03.2010, 16:49 Uhr (Neues Zeitalter)

 

Die größte Bratwurst der Welt

Digitalalzheimer 2020

„Die Zeit ist der erste Rohstoff, der komplett zur Neige gehen wird!“, also sprach Burroughs, darauf hinweisend, dass die Menschen früher Landwirtschaft betrieben, Liebschaften inszenierten, auf die Jagd gingen, Gesellschaften abhielten und anschließend noch dickleibige Romane verfassten – praktisch alles an einem Tag. Junge, wo ist die Zeit geblieben? Der Fluch ist einfach zu fassen: Wenn man jeden Tag eine Zeitung herausgibt, muss man sie füllen, und 24 Stunden Internet jeden Tag wollen mit „Content“ befüllt werden. So viel Nazikindersex kann man gar nicht veranstalten, um alle geschätzt Dreimilliardenungrad vorhandenen Websites und Internetauftritte zu füllen… Auch Horoskope, Kochrezepte und neoliberales Geseiere – als Beispiele, wo das Wort sich selber redet, bzw. schwätzt – reichen nicht; das Internet ist ein immer hungriges Tier – das bedeutet, finde dich damit ab, endgültig im Täglich-grüßt-das-Murmeltier-Spiel gefangen… Endlosschleifen, Zeitschleifen, Schleifenschleifen – die Wiederkehr des Immergleichen, die Wiederkehr des Immergleichgeschwätzten, die Hirnzellen machen den Schirm zu, den Unterschied merkt eh keiner, angeblich „vergisst das Netz nichts“, wenn junge Menschen oder Jung-Studenten, als Spezies für sich (Aliens!) die Photos von ihrer Entjungferung oder vom kollektiven Alkoholvergiftungskotzen in den Cyberspace stellen – das Netz vielleicht wirklich nicht, die Festplatte aber schon, und dann kann auch noch der Strom ausfallen (Energiekrise, Ressourcenknappheit!), zu viel Spam verschickt, zu viel Strom verbraucht, schade, all das schöne Erdöl ist futsch – dafür verbraucht, Viagraproduktfälschungen per E-mail zu verhökern – und dann fällt der Server aus und die Festplatte – ratter ratter knatter – gibt den „Geist“ (hahaha) auf – alles kaputt, Saft weg, der Bildschirm wird schwarz – na, das Netz vergisst nix?

Die Demenzpatienten vor den Bildschirmen aber schon.

– Bdolf

 

Hauptsache, man weiß, wo’s steht

Zu den vielen Zumutungen, welche die nähere IRL-Bekanntschaft mit dem Verfasser einbringt, gehört die, unweigerlich in den Einzugsbereich seines Tagebuchs zu geraten. Ein solches hat ja – neben seiner Zweckdienlichkeit für Psychohygiene und Autosuggestion – dokumentarischen Charakter. Wenn man zum Beispiel einen Roman schreiben will, der vor zehn Jahren spielt, genügt der Blick ins entsprechende Tagebuch, um den damaligen Zeitgeist in Form und Gehalt der wörtlichen Reden einfließen zu lassen. Unter Wetterverhältnisse, Arbeitspläne, Selbstmitleid und die tägliche Aufmunterung („Wenigstens bist du nicht übergewichtig.“) gerührt sind Aufzeichnungen der gesamten sozialen Seismik. So überrasche ich gerne mit jahrealten Zitaten aus dem Leben der anderen und bin nur deshalb nicht schlimmer als Google, weil ich aus meinem Datenhort (noch) kein Geschäftsmodell gemacht habe. Dafür muss ich mir Jahrestage ebenso wenig merken wie Dinge, die mich nichts angehen: Wer wann mit wem angefangen oder schlussgemacht oder welche Stelle angetreten hat.

Ich merke es mir trotzdem. Zum einen, weil ich’s geschrieben habe. Zum anderen muss ich schon wissen, wo ich suchen muss, um zu finden, was ich suche. Schirrmacher verdient Geld mit der Sorge um eine Menschheit, die sich offline bald gar nichts mehr merken kann, weil sich alles ergoogeln statt finden lässt. Wenn er was im Kopf behalten will, soll er über das, was er sich merken will, einen Wikipedia- oder Blog-Eintrag schreiben! Dann haben die anderen auch was davon. Cetero censeo (googeln, ob das von Cato oder Catilina war!): Wer vorher schon obenrum undicht war, dem schadet oder nützt das Menschheitstagebuch Internet auch nicht.

– Timotheus Schneidegger

 

weltgehirn.de

Ich spreche gerne und oft mit meinem Vater, total ungestört. Er prüft nicht permanent seinen E-Mail-Eingang oder „surft“ irgendwo rum. Es ist so entspannend. Mein Vater kann noch zuhören.

Das mag daran liegen, dass mein Vater tot ist. Als was ich – in einer Zeit, in der Schweigen als Zumutung, Stille als störend und Zeitung lesen als völlig veraltet gilt – von vielen Internet-Junkies sicher auch angesehen werde. Besonders, wenn ich gestehe, dass ich noch nie Online-Banking gemacht habe, sondern echt zu Fuß zur Bank gehe, todesmutig. Dass ich noch nie online eingekauft habe, sondern das, was ich mir nicht leisten kann, persönlich nicht erstehe, und noch nie in einem Internet-Blog gelesen, geschweige denn geschrieben habe, in keiner dieser „sozialen Plattformen“ verkehre und mir diejenigen, mit denen ich Verkehr habe, eigenhändig aussuche.

Spiele, Foren, Chatrooms, Twitter, das Internet als undurchschaubarer Zeitvertreib, als Möchtegern-Kontaktbörse und öffentlicher Seelenmülleimer, dagegen erscheint der Nacktscanner wie ein Witz.

Die virtuelle Welt ist mir einfach zu virtuell, ich bevorzuge Dinge zum Anfassen. Reale Freunde, reale Freude und manchmal auch reale Leere oder realen Müll. Wenn der mir über den Kopf wächst, beneide ich oft meinen Briefkasten. Den kann man nicht anrufen, nicht anmailen, niemand verlangt je eine Antwort von ihm und er ist nie Schuld an dem, was er preisgibt. Andererseits wird er täglich besucht und gefüttert. Vielleicht ist die einzig wahre Daseinsform die des Briefkastens. Wer weiß? Sicher das www.weltgehirn.de. Dann werde ich es nie erfahren. Egal.

– Tina Wirtz

 

Digitale Demenz

Schwierig, beinahe unmöglich, einem Patienten klarzumachen, dass er nach dem Röntgen seine Bilder nicht sehen und sie schon gar nicht physisch an sich nehmen kann, eben weil es keine klassischen Röntgenaufnahmen mehr gibt, die man mit Händen greifen, gegen das Licht halten oder an den Schaukasten hängen könnte. Mancher Patient fragt darauf besorgt, wie er seine Bilder denn sonst in die Ambulanz zum Doktor schaffen soll und die Antwort, die Aufnahmen seien längst dort, Sekunden nach der Untersuchung, das Internet habe den Transport erledigt, wird reflexartig mit erleichtertem Kopfnicken zur Kenntnis genommen. Das Internet kann alles, ist Mastermind, eierlegende Wollmilchsau des Wissens, lebendiges Gehirn par excellence, Professor Simon Wright aus Captain Future, eben das universelle Gedächtnis der Menschheit. Wenn das so ist, sagt der Patient, dann ist das so. Circulus vitiosus schont Cerebrum. Patient dankt. Wo Ausgang?
Man weiß (noch) um den Zusammenhang zwischen täglicher Aktivität und der Entstehung von Erkrankungen wie Alzheimer. Wer körperlich-geistig träge wird, dem drohen massive Störungen im Hirnkasten, bis zum Verlust von Gedächtnis, Orientierung, Auffassung, Lernfähigkeit, Sprache und – äh – was wollte ich sagen? Ach ja! Stichwort war Trägheit. Genau wie der Mensch täglich träger und statischer wird, so erlahmt auch das Internet, denn inzwischen wurde dort viel mehr Information abgestellt, als überhaupt je abgerufen werden kann. Folglich liegt das Zeug einfach nur rum, macht alles langsam und eines Tages sagt selbst das Web nix mehr außer: Hä!? Was?

– Michael Helming

 

Das Internet besteht bekanntlich…

…zu 10% aus Wahrheit, zu 40% aus Pornographie und zu 50% aus Scheißdreck, wobei sich die einzelnen Kategorien – Stichwort „de Sade“ und Stichwort „Koprophilie“ – durchaus überschneiden können. Dass sich diese Zahlenverhältnisse in Zukunft verändern, ist zwar nicht ausgeschlossen, doch falls sie es tun, dann sicher nicht zugunsten der Wahrheit. Einmal ganz von der Tatsache abgesehen, dass das „Gedächtnis der Menschheit“ lediglich eine Metapher ist – Kollektive haben allenfalls Archive, aber niemals ein Gedächtnis – sollte man das Internet als Wissensquelle also nicht überschätzen. Es wird auch in zwanzig, fünfzig oder hundert Jahren noch Bücher geben, die besser sind als Facebook. (Schon allein deshalb, weil es Facebook dann nicht mehr geben wird.)
Was die Flut an Informationen und Fehlinformationen anbelangt, in der wir heutzutage zu ersaufen drohen, möchte ich die günstige Gelegenheit nutzen, meinen inneren Apokalyptiker zu Wort kommen zu lassen. Er meint, dass sich das Internet vor allem dazu eignet, die ewige Majorität der Blöden immer noch ein bisschen blöder zu machen, und sagt wortwörtlich: „Information ist ein Stahlbad. Die Meinungsindustrie verordnet es unablässig. Alles Unglück kommt allein daher, dass die Menschen nicht in Ruhe vor ihrem Computer sitzen können, sondern immer irgendetwas googeln müssen.“

Ich gebe offen zu, dass mein Apokalyptiker stets sehr darin sich gefällt, mit Anspielungen um sich zu werfen. Aber ganz Unrecht hat er leider trotzdem nicht.

– Magister Maier

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