Der Augenblick und seine Geschichte

Die Entstehung eines „zeitlosen“ Titelfotos für ein besonderes Buch

von Michael Helming, Timotheus Schneidegger & Tom Benz, 01.03.2010, 00:14 Uhr (Neues Zeitalter)

 

„Nicht bewegen!“ Photograph Tom Benz-Hauke steht erhöht über der Szenerie, die Kamera an den Rand eines riesigen, horizontal unter der Decke seines Ateliers hängenden Spiegels gelehnt. Parallel dazu befindet sich in gut anderthalb Metern Entfernung ein weiterer Spiegel, auf dem in stundenlanger Kleinarbeit zahlreiche Gegenstände millimetergenau positioniert worden sind. Vier Blitzlichter leuchten auf, dann ist der Schuss im Kasten.

 

Die vorläufig letzte Fassung der Gegenwart

 

Beinahe ein Liter Glasreiniger wurde in den beiden entscheidenden Photositzungen verbraucht, um jenes Bild entstehen zu lassen, das auf dem Umschlag von „Die vorläufig letzte Fassung der Gegenwart“ – dem aktuellen Kurzgeschichtenband von Michael Helming – zu sehen ist.

Die einundzwanzig Stories im Buch kreisen, mit den Worten des Autors, „um Ereignisse im rekursiven Verhältnis von Entstehen, Vergessen und Erinnern.“ Es geht Helming im weitesten Sinne um Zeit „als gleichzeitige Wiederholung und Neuschöpfung.“ Da lag die Idee eines Mise en Abyme auf dem Buchumschlag nahe, doch Benz-Hauke wollte bei der Umsetzung seine Kameralinse nicht mit im Bild haben. Folglich blieb nur die Montagetechnik? „Auf keinen Fall. Das kann ja jeder“, protestierte der Bildkünstler. „Wir wollen keine digitalen Tricks. Es soll eine originale Photographie sein, genau so, wie sie durch die Linse zu sehen ist.“

Anfang Juni 2009 begann Benz-Hauke mit ersten Studien. Er fand bald heraus, dass sich bei der Projektion über zwei Spiegel die reflektierten Gegenstände mit zunehmender Anzahl der Bildebenen unglaublich weit voneinander entfernen.

 

Die vorläufig letzte Fassung der Gegenwart

 

Um auf dem Bild richtig arrangiert zu erscheinen, würden die Gegenstände also in Natura völlig abwegige Positionen einnehmen müssen. Dazu kam das Problem der Schärfentiefe. Jede Reflexion bedeutete einen größeren Abstand zwischen Objekt und Linse. Auf welche der (sich im Atelier zahllos in der Tiefe verlierenden!) Ebenen musste er fokussieren, um eine annähernd gleichmäßige Schärfe zu erreichen?

Für den richtigen Ausschnitt galt es, einen idealen Winkel und die passende Entfernung zwischen jenen beiden Spiegeln zu finden, die gemeinsam eine Fläche von mehr als vier Quadratmetern hatten. Ideen mit vierzig und mehr Quadratmetern Spiegelfläche wurden schnell wieder verworfen, nicht nur aus Kostengründen, sondern auch, weil auf dem Wege noch mehr Ebenen entstanden wären, die bei der Bildkomposition verwirrt hätten. Sehr bald war klar: Aus der im Atelier aufgebauten Szene würde letztendlich nur ein winzig kleiner Ausschnitt im Bild zu sehen sein.

Neben den Studien zur Abbildungsgeometrie mussten noch einige inhaltliche Details herausgearbeitet werden. Der Autor wünschte sich eine „Gleichzeitigkeit von Zeit“, die Benz-Hauke vor allem durch zwei Elemente darstellte. Zum einen schuf er „Buchdummies“, die das Buch, das der Leser einmal in der Hand halten sollte, zu unterschiedlichen Zeiten (also in unterschiedlichen Ausgaben) darstellte. Passend dazu entstanden Portraits verschiedener Leser und Lesealter, wofür sich Benz-Haukes eigener Vater sowie seine Kinder als Modelle zur Verfügung stellten. Über den Photographen stecken somit also drei Generationen in dieser Photographie. Außerdem sind zahlreiche klassische Symbole für Zeitlichkeit (Asche, Schneckenhaus, Kerze, etc.) zu sehen – sowie der Autor selbst.

Letzterer wird nach Benz-Haukes Skizzen wie ein Gegenstand ins Arrangement eingefügt und muss zu diesem Zweck drei Monate später, im heißen August 2009, ein paar Stunden lang diszipliniert stillstehen. Die Spiegel sind jetzt akribisch mit Scheinwerfern und Reflektoren ausgeleuchtet. Um unerwünschte Spiegelungen zu verhindern, hängen überall schwarze Decken im Raum. Bilddesigner Benz-Hauke prüft anhand seiner Aufzeichnungen noch einmal, ob jedes Detail an seinem Platz steht und bringt seine Kamera in die richtige Position. Vier Blitzlichter leuchten auf, dann ist der Schuss im Kasten.

Die vorläufig letzte Fassung der Gegenwart

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