Die saubere Welt der Werbegegner

Werbung ist das Aushängeschild des Kommerzialismus, einer verlogenen und unmenschlichen Ideologie. Das Argument, Werbung sei immer Lüge, wird seltsamerweise stets vorgebracht von denen, die eine objektive Wahrheit für unmöglich halten, oder von denen, deren Wahrheit einer anderen Ideologie entstammt. Was also käme zum Vorschein, lüftete man den Schleier des Kommerzialismus?

von J******* F******, 01.05.2009, 16:42 Uhr (Neues Zeitalter)

 

Manhattan ist keine Stadt für Langsamgeher. Man steigt aus der Bahn, verlässt die Penn-Station und wird sofort mitgerissen von den Flüssen, Bächen und Kanälen der vertikalen Avenues und horizontalen Streets. Ein Strom eiliger Passanten und eine Armada gelber Taxis brummt scheinbar orientierungslos in alle Himmelsrichtungen davon. Man stolpert ein paar Minuten durch den Verkehr, bis man dem Metrum der Stadt den richtigen Takt abgelauscht hat; dann reiht man sich ein in den Rhythmus der Fußgänger, die sich eilig von Block zu Block vorankämpfen.

Den Touristen, der sich erst einmal treiben lassen möchte, zieht es den Broadway hinauf zum Herz der Stadt, dem Times Square. Wenn es so etwas wie ein Heiligtum des Kapitalismus gibt, dann ist es hier: animierte Neon-Werbetafeln, Bildschirme, Billboards türmen sich Hunderte von Metern zahlreich und verwirrend übereinander, ein grell-bunter Mantel aus Reklame über den Fassaden der Stadt. Es ist aufdringlich, pompös, überschwenglich, stolz, je nach Laune und ideologischem Standpunkt wird man es brutal und grässlich finden oder als bedrückend schön in Erinnerung behalten. Auf keinen Fall aber kann man sich dem sensualistischen Rausch der visuellen Polyphonie entziehen. Hier lässt die Konsumkultur ihre Muskeln spielen, die Startenöre unter den postmodernen Marktschreiern zeigen, was sie können: Hershy’s, Toys ‚R‘ Us, Virgin und McDonald’s sind vertreten, weniger, um zu verkaufen, als um sich bestaunen zu lassen. Eine Zweigstelle am Times Square ist immer auch das Museum für eine Marke.

Überzeugte Werbegegner wie die kanadische Journalistin Naomi Klein werden im Times Square wohl eher eine Ausstellung kapitalistischer Gräuel erblicken. Im Jahr 2000 erschien Kleins 490 Seiten starkes Anti-Globalisierungs-Pamphlet „No logo: taking aim at the brand bullies.“ Darin beklagte sie, wie die Werbestrategien der multinationalen Konzerne nach und nach den öffentlichen Raum okkupieren und selbst vor Universitäten und Schulen nicht Halt machen würden („No Space!“). Das Buch ist faktenstark und flott geschrieben, und es bietet außerdem attraktives Identifikationspotential für junge Menschen auf der Suche nach neuen Formen der Rebellion.

Klein beschreibt mit offenkundiger Sympathie die Aktionen sogenannter „ad-buster“, die auf nächtlichen Streifzügen Werbetafeln mit mehr oder weniger originellen Motiven verschandeln. Eines ihrer Beispiele ist eine Vereinigung, die den prätentiösen Titel „Billboard Liberation Front“ trägt, und die sich einen Spaß daraus macht, Werbebotschaften zu pervertieren. So wird aus Apples ranschmeißerischem „Think different“ ein dräuendes „Think doomed“; oder das Maskottchen der Zigarettenmarke Camel macht plötzlich Werbung für „Camel Kids.“ Würde man der BLF einen Nacht lang auf dem Times Square freie Hand lassen, das Resultat wäre bestimmt ein interessantes Gesamtkunstwerk.

Times Square

Kritik an der Werbung ist wahrscheinlich so alt wie die Erfindung von Marktingkampagnen selbst. Die Vorstellung, dass irgendwo eine Gruppe junger Männer und Frauen zusammensitzt und sich überlegt, wie sie die Menschen am besten manipulieren können, hat nichts Sympathisches an sich. Werbung ist aufdringlich und distanzlos, eine fast vollständig einseitige Art der Freundschaft; dazu haftet ihr das Stigma der Unehrlichkeit an – das Problem der „Lüge“ betrifft selbst noch so sachliche Kampagnen. Werbung ist außerdem der sichtbare, allgegenwärtige Indikator für die kulturellen und gesellschaftlichen Veränderungen der Moderne und dementsprechend der Lieblingsfeind von Kulturpessimisten, die in den ständigen Fernsehspots, den Billboards an Kirchenwänden oder dem Sponsoring von Sportlern nur Menetekel für den Untergang des Abendlandes erkennen können.

So weit ist uns die Kritik an der Werbung vertraut: als harmloser Aspekt des Sprechens über Kultur, eher geeignet für den Stammtisch als für die zu allem bereite Anarchisten-Zelle. Allerdings steht hinter den harmlosen Späßchen der „ad-buster“ und den Reportagen von Pop-Kulturkritikern wie Klein der ernsthafte Anspruch, zu einer Avantgarde von neuartigen Kapitalismus-Gegnern zu gehören. Werbegegner pflegen, bewusst oder unbewusst, eine knallharte, wenn auch diffuse Ideologie. Diese Ideologie ist unterlegt mit naiven Konzepten von Realität, Authentizität und Wahrheit. Sie mündet in einen irritierend konventionellen, durch und durch schmierigen Konservatismus.

1961 veröffentlichte der amerikanische Historiker Daniel Boorstin ein kleines, wütendes Buch, in dem er sich über den wachsenden Starkult und die schamlose Inszenierung von Nachrichten empörte. „The Image: A Guide to Pseudo-events in America“ gilt heute als Klassiker der modernen Medienkritik. Boorstin brachte „das Bild“ selbst auf die Anklagebank und kritisierte die Machtergreifung der Simulation. Inszenierungen, wütete Boorstin, seien inzwischen wichtiger geworden als Realität, „pseudo-events“ hätten den Status tatsächlicher Ereignisse angenommen. Werbung, als schlimmster Auswuchs dieser Entwicklung, kreiere eine falsche, idealisierte Welt, die sich unaufhaltsam über die echte Welt ausspannen würde.

Man könnte meinen, dass die Gegenwart diese hemmungslos verstaubte Kulturkritik im historischen Kontext der 60er Jahre zurückgelassen hat, dass pompöse Dichotomien wie Realität vs. Illusion, Authentizität vs. Simulation, Original vs. Plagiat durch ein anspruchsvolleres und vor allem spannenderes Nachdenken über Perzeption, Kontext und Begriffe ersetzt worden sei. Die Lektüre werbekritische Pamphlete kuriert einen aber von jedem Optimismus.

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