Größere Wahrheit am Arsch

von Timotheus Schneidegger, 20.11.2008, 14:15 Uhr (Verlorenes Zeitalter)

 

Eine Muse war einst vom Nektar erheitert den Berg hinabgerollt. Sie trug 2002 der UNESCO mit schwerer Zunge auf, an jedem dritten Donnerstag im November den Tag der Philosophie zu begehen. Nach offenbar reiflicher Überlegung schloss sich Deutschland erst im letzten Jahr der akademischen Awareness-Polonaise an; liegt er zudem attraktiv wesensnah irgendwo zwischen Volkstrauertag und Totensonntag, folgend gar auf den Buß- und Bettag. So konnte denn, wer es nötig hatte, gestern für seine metaphysischen Sünden Abbitte leisten, um heute die Vergebung seiner akademischen auszuhandeln.

 

Der Anspruch der UNESCO, an diesem Gedenktag „Philosophie einem breiteren Publikum zugänglich zu machen“, wird von ihrer deutschen Kommission auf das knackige „Warum Philosophie?“ eingedampft. Unter diesem metafragend vielversprechenden Titel tagt man vom 24. bis 26. November an der Uni Bonn über – ach so: „den Nutzen der Philosophie in der technologischen Gesellschaft von heute.“ Was in gut 2.500 Jahren Betriebsgeschichte noch kein seriöser Philosoph trotz drängelnden Marketingleiters wagte – man kündigt gar Antworten an: „Rechnet es sich in Philosophie zu investieren?“

Da ist – Dialektik, ick hör‘ dir trappsen! – die Antwort schon in der Frage enthalten; selten ist die Umzingelung durch die buchwertschaffende Leitwissenschaft schöner in Worte gefasst worden.

 

Die schnöde Aufforderung, die eigene Existenz einmal im Jahr zu rechtfertigen (quasi ein normativer Geburtstag), ist nicht der einzige Grund, warum einem Philosophen der Tag der Philosophie – in Anlehnung an Joseph von Westphalen – „am Arsch vorbeigehen“ kann.

1964 stellte Arno Schmidt fest:

 

„Zuweilen hat man es nicht nur genehmigt, sondern sogar eingesehen, daß ein Unterschied besteht, [sic!] zwischen ‚reiner‘ Mathematik und ‚angewandter‘; aber die Bereitschaft, der Literatur das gleiche zuzubilligen, habe ich so gut wie noch nie angetroffen.“

 

Die Philosophie steht also nicht alleine da mit dem Rechtfertigungsdefizit unpatentierbarer Grundlagenforschung. Gut gehalten hat sie sich dennoch, gar Einzug gehalten in den Alltag, für den relevant zu sein sie an ihrem heutigen Freudentag die Beweislast trägt: Jede noch so kleine Klitsche wirbt mit einer Unternehmensphilosophie. Die Weisheitsliebe ist neuerdings gar als Nachfahrin der Spieltaktik auf dem Fußballfeld unterwegs („Wir spielen in Leverkusen etwas anders als hier – selbst wenn wir grundsätzlich die gleiche Philosophie verfolgen: nach vorne spielen, schnell spielen, flach spielen.“ Simon Rolfes in der vorgestrigen FAZ).

 

Kein Problem also. Es soll auch kein Neid auf die Kollegen von der angewandten Weisheit und Kunstfertigkeit aufkommen, die nicht einmal im Jahr aufmerken müssen, um dem Schicksal zu entgehen, mit dem Müll an die Straße gestellt zu werden: Es gibt keinen Tag des Schwachsinns, an dem Dieter Bohlen & Co. erklären, was sie machen und welchen Wert das für den Alltag hat. Mit dem, was sie tun, verdienen sie schließlich Geld. Dass sich in dessen Anwesenheit keine Fragen, schon gar nicht existentieller Art, stellen, kennt der Philosophiestudent nur zu gut. Dessen Kontoauszug wird zum Befähigungsnachweis, mit der Frage nach dem Warum seines Daseins umgehen zu können und also mit der conditio humana, die sich dem Großteil der Bevölkerung erst seit ein, zwei Jahrzehnten offenbart: Dass sie nicht gebraucht werden und zusehen müssen, wie sie über die Runden kommen.

 

Von der rauen Liebe zur Weisheit geläutert hat ein Philosoph es nicht nötig, durch den Ring zu springen und sein Fach zu rechtfertigen. Es hat seinen Grund, dass geistlose und blutleere Brotwissenschaften wie BWL oder Jura keinen Logos in ihrem Namen tragen, und nicht einmal wie die Mathematik eine Haltung ausdrücken. Sich der Philosophie oder einer ihrer wissenschaftlichen Töchter zu verschreiben heißt, keine Inhalte zu pauken, von denen sich beim Familienfest oder am UNESCO-Jahrestag erklären lässt, was „man damit machen kann.“ Es geht darum, und darauf will auch Schmidts reine Literatur hinaus, die Methoden zu verfeinern, um die Welt präziser zu erfassen und „GRÖSSERE WAHRHEIT“ (Schmidt) hervorzubringen. Philosophie ist die harte Schule, sich über Selbstverständlichkeiten kompliziert den Kopf zu zerbrechen, ohne den geringsten Nutzen daraus ziehen zu können. Die Liebe ist da keine Rechtfertigung, sondern das Motiv, denn „die einzige eines höheren Menschen würdige Einstellung ist das beharrliche Festhalten an einer Tätigkeit, die er als nutzlos erkennt.“ (Fernando Pessoa)

 

So darf der verarmte Geistesadel die Arme verschränken, wenn ihm aufgetragen ist, für seine „Untaten“ Buße zu tun. Seit Anfang des Untergangs des Abendlandes 1968 fallen Geisteswissenschaftler im Allgemeinen, Philosophen im Speziellen bestenfalls durch das Beklagen ihrer gesellschaftlichen Irrelevanz auf. Dem Naserümpfen darüber ist nur recht zu geben. Man schleife den beharrlichen Nichtsnutz endlich zum Schafott!

Weithin halten sich technisch-ökonomisch prosperierende Elite-Universitäten wie die RWTH Aachen nur noch Philosophische Seminare, um mit dem Traditionsbruch ihrer Abschaffung nicht endgültig als Maschinenmenschenschmiede zu gelten.

Die Philosophie dagegen schweigt bloß auf die Forderungen, sich zu rechtfertigen – sie gibt sich ja nicht einmal Mühe! Sie spuckt gar auf die Hand, die ihr eine esoterische Wellness-Verlagsökonomie zur Einbeziehung in den Verwertungsprozess reicht.

Man hat doch die Mehrheit auf der Seite, so wage man es doch endlich, dieses – horribile dictu! – „Neigungsfach“ aus dem Kanon zu streichen! Es wäre damit nichts verloren außer den Philosophiebeamten.

Und was gelten die Professoren schon der Philosophie! Der Grund, aus dem uns einige Philosophen mit ihrem Werk überliefert sind und nicht dem wesensgemäßen Hungertod oder Wahnsinn anheimfielen, ist derselbe, aus dem der Großteil des philosophischen Erbes dem kaltherzigen Zeitgeist seit eh und je den Boden bereitet und das Gewissen möbliert: Sie standen in Diensten oder waren versorgte Erben. Der Philosoph mit Auftrag oder Geld muß sich am heutigen Tag der Philosophie nicht rechtfertigen; er ist aber kein Philosoph mehr.

 

Der rektale Transit des heutigen UNESCO-Tags ist zu guter Letzt durch das Elend der Philosophie angezeigt. Ein besonders weiser Freund des Verfassers bemerkte einmal den Irrtum der meisten Leute, die Philosophie für eine edle und hohe Geistesarbeit halten; dabei ist sie in Wirklichkeit eher ein zersetzender Fluch, von dem man sich nicht mehr befreien kann. Man darf gespannt sein, ob ein künftiger Metastasen-Tag es den Krebskranken im UNESCO-Einzugsgebiet auferlegt, den gesellschaftlichen Beitrag, den sie mit ihrem Leiden erbringen, in einer Powerpoint-Präsentation vorzustellen. Das staunende Publikum wird, wie auch am heutigen Tag der Philosophie, bestenfalls Mitleid mit den Betroffenen haben und insgeheim hoffen, sie mögen das Sozialsystem nicht zu sehr belasten.

Bleibt abschließend nur der Rat zur Vorsorge. Wenn in Marxens Kapital (Reinhard, nicht Karl!) beklagt wird, „Sünde“ sei nur noch als Diätverstoß und „Beichte“ nur noch als Drogenerfahrung eines Prominenten gebräuchlich, so ist uns der Weg gewiesen in dieser Woche der Einkehr und Buße. Man komme nicht von diesem Weg ab, blicke nicht nach links und rechts, schon gar nicht nach oben und unten, auf dass man vom Übel der Philosophie verschont bleibe. Der den Gesundheitspredigten entliehene Rat, bewusst zu leben, ist am heutigen Tag der Philosophie das Gegenteil des gleich lautenden, 2500 Jahre alten Aufrufs.

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