Über Sabine

von Timotheus Schneidegger, 20.07.2007, 14:47 Uhr (Freiburger Zeitalter)

In den weiten Räumen der Geschichte sitzt Beethoven bei dem Sonnenschein weit geöffneten Türen und Fenstern, um zu komponieren, ohne noch hören zu können. Doch es ist Elkhold, der da in der lichtdurchfluteten Küche sitzt, den Rücken zum kleinen Balkon, durch dessen mannshohe Edelstahlbrüstung die Dächer der Stadt zu sehen sind. Sabine ist noch weit entfernt davon, die Wohnung und damit den Balkon auf eigene Faust erkunden zu können, aber sie haben die Gitter schon jetzt angebracht. »Camp David mit Aussicht«, juxte Maya, und meinte wohl Camp Delta auf Guantanamo.

Sabine sitzt in ihrem hölzernen Hochsitz und meditiert mit einem Löffel Brei im Mund über das Wesen der Plastikschüssel vor sich. Bach und Beethoven vermögen Sabine mehr zu stillen als Mayas Brust.

Elkhold auf der anderen Seite des gläsernen Küchentischs mit der Obstschale darauf versucht, die Ausführungen des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend das Elterngeld betreffend zu verstehen. Maya wollte von all dem nichts wissen, da sie »lieber sterben« wolle als von Sozialhilfe zu leben, und war für drei Tage zu ihren verhassten Eltern gezogen, als Elkhold die Hochschwangere in der Vorweihnachtszeit auf eine Fernsehsendung hinwies, in der über die Möglichkeiten berichtet wurde, eine Entbindung um Tage oder gar ein, zwei Wochen bis ins Jahr 2007 hinauszuzögern. Sabine sollte an Heiligabend zur Welt kommen, »wie Jesus!« (Elkhold war zutiefst erschrocken darüber, sich nicht sicher sein zu können, ob das wirklich nur ein Scherz sein sollte.) Aber Mutter Natur hatte es doch noch so eingerichtet, daß Elkhold statt Bundeserziehungsgeld nun also doch Elterngeld beantragen konnte. Einmal entbunden, konnte Maya es kaum erwarten, wieder zur Arbeit zu gehen, und Elkhold brütete seither halbtags darüber, wie sich so viele Zuwendungen wie möglich aus der staatlichen Fortpflanzungsbeihilfe gewinnen ließen, die an Stelle des nicht mehr wie zu seinen besten Zeiten noch zum Beischlaf motivierenden Orgasmus getreten war. Elkholds Vertrag in einem Museum war ausgelaufen, aber er hatte vereinbart, offiziell weiterhin angestellt zu bleiben; man brauche ihn ja nicht zu bezahlen, da er als amtlicher Superdaddy »vorübergehend auf eine Erwerbstätigkeit verzichtet und so mehr Zeit für die Betreuung des Kindes hat« (U. von der Leyen). Nebenbei unterstützt er seinen alten Arbeitgeber, indem er heimlich am Katalog einer Fotoausstellung mitschreibt; vielleicht lassen sie ihn irgendwann auch seine Bilder ausstellen, so sein Kalkül. Elkhold legt den ausgedruckten Gesetzestext weg und greift also zu Roland Barthes’ »Die helle Kammer«.

Er ist stolz darauf, wie er jedes Mal, wenn er eine Seite umblättert oder den Stift nach getaner Notiz hinlegt, Sabine im Auge behält, als könne sie jeden Moment den Löffel ausspucken und sozialdarwinistische Parolen in die Küche brüllen.

Schmunzelnd greift Elkhold jäh zum Stift, um eine Stelle bei Barthes anzustreichen. Und zwar in Wellenlinien, da Maya ihre Anstreichungen mit geraden Linien vornimmt, und sie streicht viel an, zumindest hat sie das, als sie noch viel las:

»Wie sehr mißfällt mir im übrigen dieser wissenschaftliche Usus, die Familie so zu betrachten, als sei sie einzig ein Geflecht aus Zwängen und Riten: entweder codiert man sie als Gruppe von unmittelbarer Zusammengehörigkeit, oder man macht daraus ein Knäuel von Konflikten und Verdrängungen. Man könnte meinen, unsere Denker könnten sich nicht vorstellen, daß es Familien gibt, ‚in denen man sich liebt‘.«

Sich mit dem, was eine gelungene Formulierung sagen will, zu identifizieren ist so reizvoll wie das heimliche Lächeln einer jungen Schönheit an der Supermarktkasse. Hier wie dort das Gefühl, voll und ganz als die Person angesprochen zu sein, die man ist, und zwar von jemandem, der gar nichts über einen weiß.

Ist es denn nicht Liebe, was Elkhold und Maya verbindet? Das namenlose Unglück eines jeden von ihnen, das nur der andere kennt, wenn auch nicht verstehen kann. Mit Sabine ist es jetzt anders: Sie soll von all dem unberührt bleiben.

Für Maya ist es wie ein Naturgesetz, das nicht weiter der Rede wert ist, als Mutter der größte Quell der reinen Liebe in diesen vier Wänden zu sein, in denen sie sich selten genug aufhält. Elkhold läßt ihr diese Auffassung, denn auch er findet, Maya habe ein Recht darauf. Wäre Maya zu richtigem Streit fähig, würde sie ihm immer wieder damit kommen; aber es reicht immer nur für ordinäre Beleidigungen.

Darum wundert er sich oft genug über sich selbst, wenn er nicht nur deshalb froh um Sabine ist, weil sie Maya einen Grund gibt, immer wieder nach Hause zu kommen.

»Sollen wir die Post holen?«, fragt er Sabine, ohne eine Antwort oder wichtige Schreiben zu erwarten.

Sabines Kopf wippt auf und ab, als Elkhold mit ihr auf dem Arm die Treppen hinabstürmt. Mittendrin reißt sie jauchzend ihre kleinen Hände vor’s unförmig lachende Kleinkindgesicht. Noch während Elkhold den Briefkasten schließt stößt Sabine schwallweise monotones Babygelächter aus. Wie ein Schluckauf des Herzens. »Guck mal, Mama hat uns eine Karte aus Paris geschrieben!«, sagt Elkhold und liest vor. Was er verschweigt: Es ist eine Karte wie immer. Die Reisegruppe, die Maya zu betreuen hat, ist anstrengend, aber »superlieb«, einer Frau sind die Papiere gestohlen worden und die Agentur hat während Mayas Mutterschutz die Versicherungsabläufe umgestellt, so daß Maya sich wie im ersten Lehrjahr vorkommt, ganz dolle liebe Grüße.

Sie ruft jeden Abend an, um aus der Ferne Sabines erstes Wort hervorzulocken. Die Sache mit den gestohlenen Papieren hat sich schon vor zehn Tagen erledigt. Vor einer Stunde ist Maya in Frankfurt gelandet. Eine Karte wie immer.

Eine Nachbarin geht an Elkhold vorbei. Allseitiges »Guten Tag.« Die verbitterte Ziege, deren Eierstöcke längst ausgetrocknet sind, sieht ihn an, als hätte er das lachende Kind auf seinem Arm nicht gezeugt, sondern gestohlen. Ob die Alte es ihnen ansieht? Ob sie Mitleid mit dem armen Kind hat, dessen Mutter vor Jahren wegen dessen Vater versucht hatte, sich umzubringen? Eine andere Stadt, die lichtdurchflutete Küche, Bach, Beethoven und ein Baby, das ändert alles nichts. Hatte einer von ihnen das etwa zu hoffen gewagt? Es ist noch immer so, wie es ist, nur daß es jetzt auch Sabine betrifft, die sich nicht wehren kann.

Als sie die Treppe hinaufgehen, bricht Sabine wieder in helles Gelächter aus, das Elkhold aufrichtet. Trotzdem wird er nachher trinken. Maya wird zuerst noch Freundinnen besuchen, ehe sie nach Hause kommt. Sabine wird ihr Köpfchen auf Elkholds warme Brust legen und den fernen Scotchdunst atmen, den ihr Vater dann verströmt, und sie wird mit dem linken Händchen im Mund in den Schlaf hineinschmelzen.

In ihrem Wettbewerb, wer mehr leidet und also mehr liebt, haben Maya und Elkhold mit der Geburt Sabines beide verloren. Seit dem Tag ihrer Geburt werden Maya und Elkhold unaufhaltsam immer weiter in den Hintergrund rücken und schließlich wie Schatten in der Dunkelheit versinken. So wie es Sabines Großeltern bereits geschehen ist. Dieses kleine Menschlein mit den großen, blauen Augen überstrahlt alles Unglück, das seine Eltern aus ihren Biographien zu schürfen und voreinander aufzuhäufen vermögen; sie verblassen nicht nur auf den Spielplätzen, nicht nur im Supermarkt vor der Babynahrung.

Das mag der Grund dafür sein, daß Maya ihr zu Hause meidet, aber nicht der für Elkholds Trinkerei. Er versucht, den glasklaren Blick in die tödliche Leere zu trüben, von der er fürchtet, sie sei das einzige, was er seiner Tochter zu vererben hat. Er versucht, den unvermeidlichen Moment zu verpassen, an dem dieser Riß, der durch die Welt und mitten durch ihre Personen hindurchgeht, auch auf Sabine übergreift.

Sie sieht Elkhold in die Augen und öffnet den Mund: »Papa.«

Der Anfang ist gemacht. Jetzt ist auch sie in der Lage, zu schweigen.

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