E spelunca lux. Teil I: Jollystuben, Karlsruhe

Die Debatte um die Unterschicht tobt. War früher das Arbeitslosengeld Garant dafür, daß selbst der freiberufliche Journalist sich nicht einfühlen mußte in das Stigma Sozialhilfe, dräut heute auch der Mittelschicht ein Leben auf 345-Euro-Niveau. Und dennoch: Die Presse beschränkt sich aufs akademische Prekariat einerseits, migrationshintergründige Nischengesellschaften andererseits. Die hausgemachte, etablierte Unterschicht, Marxens Lumpenproletariat bleibt TERRA INCOGNITA. Dem abzuhelfen veröffentlicht diese Zeitschrift mit dieser Ausgabe beginnend Milieustudien, die nicht nur über ein Phänomen berichten, sondern es mitvollziehen. In der teilhabenden Analyse sogenannter »Assikneipen« (1) zeigt sich: E SPELUNCA LUX!

von Augušt Maria Neander, 25.06.2007, 22:23 Uhr (Freiburger Zeitalter)

Schon von außen wirken die Jollystuben trist. Die Fassade vollverglast, nicht wie ein Bankenturm, sondern in der Art aufgegebener und zur Kneipe umgewidmeter Läden in schlechter Lage. Ein wenig heimelig gemacht durch aufgeklebte Folien, die Höhepunkte ankündigen. Spielautomaten, E-Dart, und natürlich: günstige Alkoholika.

Im Hineingehen bestätigt sich unmittelbar der Charakter. Die kleinbürgerlich-vertäfelte Theke, die Spielautomaten, die allesamt noch auf Mark lauten. Zum Inventar gehören außerdem die beiden – einzigen? – Gäste: beide in unbestimmtem Alter, vielleicht Ende 50, doch ebenso abgelebt wie die Theke und die Automaten. Hinter dem Tresen der Wirt. Erstaunlich jung; nicht die knorrige Sorte, die man in einzigen Dorfwirtschaften erwarten würde. Kurze Haare, nach oben gegelt; nicht Schorsch oder Fritz. Kevin vielleicht, oder wahrscheinlich doch Mike. Die Bedienung: Offensichtlich seine Freundin, natürlich blond. Eigentlich hatte sie sich besseres gewünscht. Aber immerhin: Ein eigener Laden. Die Rollenverteilung ist klassisch: der redselige Nostalgiker, der große Schweiger, der Wirt moderiert, ohne groß etwas ändern zu können, und doch blickt seine Freundin auf zu ihm.

Der Laden allerdings geht schlecht. Wir werden nicht mißtrauisch beäugt; man freut sich: Endlich junge Leute. Geht der Laden jetzt endlich? Wir setzen uns an den Menschärgeredichnicht-Tisch: Für zwei Mark lassen sich Lichtpunkte über die Glasplatte jagen nach den bekannten Regeln. Wir bleiben aber nicht lange allein: Einer der Gäste stößt zu uns.

Er möge junge Leute. Und endlich läuft die Kneipe. Ach, früher, als er selbst noch jung war. Alle hat er gesehen: Jimmy Hendrix. Die Beatles. Und Baß gespielt! Das gleiche Modell wie Paul McCartney! Damals sei er als Vorgruppe von Cream aufgetreten. Aber jetzt ist er alt. 60, gerade eben. Übrigens, Dieter heißt er, wir dürfen aber Didi sagen. Er arbeitet bei einer großen Bank, verdient gut, die Frau hat ihn verlassen.Wegen der verdammten Sauferei, Arschlecken.

Er lädt uns ein auf eine Runde der Spezialität des Hauses: Dracula. Ein hustensaftartiger Likör für 1,20. Auch der Wirt wird uns noch eine Runde ausgeben. Endlich junge Leute! Seine Freundin weicht nicht hinter uns; analysiert sie wirklich nur unser Strom-Menschärgeredichnicht? Auch der andere Gast hat sich zu uns bewegt. Lange weiße Haare, Vollbart. Ein Archetyp. Unauffällig setzt er sich an den Spielautomaten neben uns; ein Kartenspielautomat mit Bildschirm; wohl das neueste Gerät. In der Highscoreliste zehnmal er: ASPHALT COWB.

Didi kann sich nicht halten: Philosophie! Er interessiert sich auch dafür, sein Freund, der als Kant-Interpret in Holland arbeitet, der versteht das auch, aber er . . . Er hat Informatik studiert, damals, in Bielefeld. Heute arbeitet er bei einer Bank. Alle hat er sie gesehen: Jimmy Hendrix, Arschlecken! Ob wir Heidegger kennten? Schlimme Sache, mit den Nazis, das. Seine Kinder studieren ja auch. Nicht Philosophie. Sind bei seiner Frau. Und Gadamer? Sein Freund, der Kant-Interpret, Arschlecken!, der kannte Gadamer. Ob wir Gadamer kennen? Wir kennen Gadamer. Er hat ein Bild von Gadamer. Mit Unterschrift.

Im Hinterzimmer steht die angepriesene E-Dart-Anlage: Eine Scheibe mit Plastikpfeilen, daneben ein winziger Bildschirm, eine grauspeckige Tastatur, auf dem Bildschirm blinkt bernsteinern-verloren das Menü eines Programms aus lange vergangenen Zeiten. E-Dart: Das heißt hier, Punkte ins Dartprogramm einzugeben. Ein Blatt hängt am Fenster: Die Dartmannschaft sucht noch Spieler. Ohne Datum.

Didi glaubt an Gott. Didi ist Christ. Katholisch, aber darauf kommt’s ja nicht an. Sogar in der CDU, aber das ändert ja eh nichts. Er ist keiner von den armen Schluckern, er verdient gut. In den 60ern war er mal Vorband von Cream. Arschlecken.

***

Das Gadamer-Autogramm stand nach diesem Abend vor der Tür unserer Gastgeberin. Heute hängt es in Neanders Bibliothek. Didi läßt regelmäßig grüßen.

(1) Nomina sunt odiosa. Die Namen aller Personen sind verfremdet. Die Lokalitäten existieren tatsächlich unter dem angegebenen Namen an den angegebenen Orten.

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