Und das sag ich jetzt nicht nur so

Hommage an Benjamin Lebert und Schigalew.

von Timotheus Schneidegger, 25.09.2006, 11:12 Uhr (Freiburger Zeitalter)

 

Zeit ist Geld – und umgekehrt. Nehmen wir als Beispiel: Computer. Der meine ist gestern kaputtgegangen. Ich kenne Leute, die bei einer solchen Gelegenheit ins nächste Kaufhaus gehen und sich einfach einen neuen PC besorgen. Mir ist es zur Gewohnheit geworden, mit diesen Leuten nur noch nach dem Motto, über Geld und Sex spräche man nicht, zu verkehren.

Es ist so: Jemand, dessen Computer im gleichen Moment abgeraucht ist wie der meine, und der Geld hat, kann sich eine Stunde später bereits wieder an seine Arbeit machen, während ich noch mit dem Aufwand einer naturwissenschaftlichen oder soziologischen Dissertation Kataloge und Listen wälze, um nicht einen der Euros, die ich nicht habe, zu viel auszugeben. Angenommen, der eben erwähnte Jemand hat neben einem defekten Rechner noch etwas mit mir gemeinsam, sagen wir, er und ich haben vor drei Tagen den Auftrag erhalten, einen Roman von Weltrang zu schreiben. Dieser Jemand hat den Schrecken über das funkensprühende PC-Gehäuse verdaut und seine zweifelsohne lesenswerte Schreibe wieder aufgenommen, derweil ich noch mit meinem Notizbuch voller Preisvergleiche von Geschäft zu Geschäft stolpere und später mit der Bank verbissen die Vorzüge diskutiere, die eine weitere Erhöhung meines Dispos für alle Beteiligten hätte.

Dies der bikonditionale Zusammenhang der Eigenschaften, Geld zu haben und Zeit zu haben, oft im Volksmund als „Zeit ist Geld“ dahergesagt wie ein launischer Kommentar zur wettbewerbsfreien, entspannten Selbstverwirklichungswohlstandsgesellschaft mit menschlichem Antlitz im Angesicht allgemeiner Vergänglichkeit.

 

Ebenfalls gestern, am Abend, geschah es, daß mich mein Kollege Rudolf anrief. Das Telefon funktionierte zum Glück ja noch. Er schlug vor, zur Lesung von Benjamin Lebert zu gehen und jedes Mal laut zu applaudieren, wenn er das Wort „ficken“ las. Ich sagte zu, um auf andere Gedanken zu kommen, und überließ die Computerprospekte und den rauchenden Schrotthaufen sich selbst.

Rudolf stand neben mir und betrachtete mißmutig das halbe Mädchengymnasium, das sich zu Ehren Leberts im kleinen Saal drängte. Die meiste Zeit hörte ich nicht zu. Lebert erzählte weltmännisch, gebildet, vielseitig und sensibel von Vorträgen in aller Welt, vom ersten Handy, durch den liebenden Vateranwalt während Einzelhaft im italienischen Urlaubsdomizil überreicht, von Selbstmord in Berlin, Urlaub in Malmö, von naturgeilen amerikanischen Lektorinnen, die ihm den Rücken zerkratzten, von engen Japanerinnen in Tokioter Hotelzimmern (!) und es war ja ganz interessant zu hören, wie es an Orten ist, zu denen ich nie würde reisen können, obwohl ich gerne etwas über die Landschaften erfahren hätte und über die Menschen dort etwas mehr als wie dezent knallrot ihre Lippen geschminkt und wie kurz ihre Röcke sind. Da Lebert von unserer Position aus nicht zu sehen war, konnte ich nicht sagen, ob er gerade schwadronierte oder aus seinem Buch vorlas. Rudolf fand das sowieso unerheblich und es eine Schande, daß „unsere Gesellschaft schon so abgefuckt ist“, daß selbst einem 24jährigen bereits die Ideen ausgingen und er wie ein 80jähriger sein Leben literarisch verwursten müsse, das statt mit Kriegs- eben mit fremdländischen Fickgeschichten aufgerüstet werden musste. Mir wurde begreiflich, wieso Lebert zu Beginn seiner Lesung wie delirierend das Leben als ungewisse Reise charakterisiert hatte; und als reißenden Fluß, „und das sage ich jetzt nicht nur so“. „Wenn das stimmt“, hatte Rudolf gebrummt, „dann wurde ich in ein Nichtschwimmerbecken voller Kinderpisse hineingeboren.“

Carl Spitzweg: Der arme Poet

Carl Spitzweg: „Der arme Poet“ (1839)

 

 

In New York sei er auch schon oft gewesen, erklärte Lebert kaum noch vernehmbar, einmal auf Lesereise mit einem schwulen Schriftsteller, der sich bei Lebert, so Lebert, beklagt hätte: „Your book is so terrible. I can write a much better book.“

„Why don’t you do it?“

„I have to earn money first.“

Das Publikum lachte. Vermutlich hielt es das für eine weitere heitere Anekdote, die wie die rhetorische Fragerei „Könnt ihr noch?“ verhindern sollte, daß sich sanftes Mädchenschnarchen im Raume breitmacht.

Rudolf indes hatte die Zähne zusammengebissen und fragte mich schließlich mit vorwurfsvoller Stimme, warum die Leute darüber gelacht hätten. „Können arme Leute nicht schreiben oder sollen arme Leute nicht schreiben? Oder wie war das jetzt zu verstehen?!“ Er versuchte, Lebert einen finsteren Blick zuzuwerfen. Jener jedoch war nach wie vor umringt von lauschenden Gymnasiastinnen mit schräggestellten Köpfchen, unsichtbar, und erzählte gerade vor Ergriffenheit stammelnd, daß Günter Grass ihm verraten hätte, jemanden einfach nur anzusehen sei wahres Mitgefühl, wirkliche Liebe, man muß nicht immer etwas sagen. „Und das sage ich jetzt nicht nur so.“

 

Rudolf kündigte an, „mal eben kotzen zu gehen“. Nach der Lesung zitierte er die ganze Nacht lang aus seinem neuen Lieblingsbuch „Ich bin ganz, ganz tot, in vier Wochen“ Bittgesuche berühmter, hungernder Schriftsteller. Er brüllte und schimpfte immer heftiger, je betrunkener er von dem Korn mit Eis wurde, an dem wir uns in seiner Dachkammer gütlich taten. Unseren Stolz, immerhin, den könne man nicht pfänden oder wegrationalisieren, der sei das einzige, was man von sich aus aufgeben müsse. Eine ungeheure Unverschämtheit sei das, sich darüber auszuheulen, reich und berühmt, aber immer noch genauso unglücklich wie alle anderen Menschen zu sein – und eben damit nur noch reicher und berühmter zu werden! Diese widerwärtige Weltschmerzsoße der überall und nirgends Beheimateten. „Aber zumindest wären wir nicht entsetzt, spuckte man uns plötzlich an! Im Gegenteil: Freudig dürften wir zur Kenntnis nehmen, daß die Gesellschaft uns gegenüber endlich ehrlich ist! Was macht dein Roman?“ usw.usf.

Am nächsten Tag schrieb Rudolf auf, was er an diesem Abend erlebt und gedacht hatte. Er beschrieb einfach sich selbst und erfand einen namenlosen Freund dazu, um sich selbst in der dritten Person beschreiben zu können. Rudolf teilte seine Eindrücke und Kommentare alibihaft unter den beiden auf. Es wurde sein erster erfolgreicher Text. Eine namhafte Zeitschrift aus Freiburg, die von seinem Cousin herausgegeben wurde, veröffentlichte ihn, bald darauf nahm eine begeisterte Verlegerin Kontakt und Geschlechtsverkehr mit Rudolf auf.

 

Er machte seinen Arbeitsplatz in der Fabrik für mich frei, konnte viel reisen und erzählte in seinen Romanen, wie trostlos das Leben der reichen und berühmten Leute überall auf der Welt war. Später schrieb er das Buch zu Ende, das ich begonnen hatte und nicht fertig schreiben konnte, weil die Fabrik erkannt hatte, daß garantierter Lohn und Feierabend Standortnachteile sind.

Zwei Jahre darauf las Rudolf am gleichen Ort wie Lebert damals, ohne es zu merken, so überwältigt war er von der Freundlichkeit des Publikums. Bescheiden stammelnd erzählte er, was Elfriede Jelinek ihm neulich bei Kaffee und Kuchen geraten hätte. Die anderen brachten immer noch den Großteil ihrer knapp bemessenen Lebenszeit damit zu, jeden nicht vorhandenen Cent umzudrehen und sich jedes Mal zu schämen, wenn von Sozialneid und arbeitsscheuen Jammerlappen gedröhnt wurde, die einen Bremsklotz der Gesellschaft darstellten.

Am Ende seines Lebens schrieb Rudolf etwas über die anderen und mich. Er zitierte in einem fort aus Nietzsches Geburt der Tragödie, daß die griechischen Künstler nur darum so gut waren, weil sie sich schuldig fühlten, auf dem Rücken der Sklaverei viel freie Zeit für die Muße zu haben. Auch dieses Buch war ein großer Erfolg – bei den Lesungen schwieg das Publikum ehrfurchtsvoll und beeindruckt von Rudolfs schlechtem Gewissen. Ich brachte mich um, damit seine Karriere noch etwas weitergehen konnte.

Zeit ist Geld – und ich sag das jetzt nicht nur so.

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