Ulrich Horstmann: Modern als Imperativ

von Timotheus Schneidegger, 07.01.2006, 21:13 Uhr (Freiburger Zeitalter)

Ein klassischer Satz der 80er Jahre: „Unser militärtechnologischer Leistungsstand dürfte uns schon jetzt dank der angesammelten thermonuklearen Overkill-Kapazitäten, der biochemischen Einsatzreserven und bakteriologischen ‚Ausputzer‘ in den Stand versetzen, unsere Spezies bis auf das letzte Exemplar vom Angesicht der Erde zu vertilgen.“

Einzigartig in diesen friedensbewegten Zeiten jedoch, wenn sich sowas einen Satz später nicht als angstvoller Ausblick, sondern als Hoffnung auf Erlösung offenbart: „Damit wäre ein evolutionärer Fehltritt korrigiert, …der menschliche Geist, in dem das Leiden zu dem es nochmals potenzierenden Bewußtsein seiner selbst gelangt, zerstört.“

Hier spricht eine Philosophie, die nicht nur „das Ende des Menschen denkt“, sondern gute Gründe dafür angibt, dieses Ende auch zu verwirklichen. Ulrich Horstmann brachte 1983 mit seinem Buch „Das Untier – Konturen einer Philosophie der Menschenflucht“ das „anthropofugale“ Denken auf den neuesten Stand der Technik. Jahrzehnte bevor es zum Modewort wurde, spricht er von „Globalisierung“, jedoch von einer des Todes. Sie ist im Kalten Krieg erstmals möglich geworden. Die gesamte Menschheit kann „sich aus dem bloßen Konditional des ‚Ich hätte nie existieren dürfen‘ in das Perfektum des ‚Ich habe nie existiert‘ begeben.“ (S. 99f.) Gestützt auf u.a. Schopenhauer, Hartmann, Cioran und Spengler zeigt Horstmann, der totale Suizid habe seinen Sinn, ja, sei sogar der Sinn: Das letzte Ziel einer Menscheitsgeschichte, die sich durch bis dahin unendliches Leid und die Erfindung immer besserer Werkzeuge zur Erzeugung von Leid auszeichnet. Entsprechend hält Horstmann es durch, „den Euphemismus ‚Mensch‘ zu boykottieren“ (statt dessen ist die Rede vom „Untier“), und „Vorbereitungskrieg“ statt „Weltkrieg“ zu schreiben (S. 8).

Ulrich Horstmann
Ulrich Horstmann, gezeichnet von Georg Frost für Lichtwolf Nr. 17.

Als sich die Grünen auf den langen Weg machten, die BRD von innen zum umweltfreundlichen Friedensstaat umzuwandeln, beschreibt Horstmann, welche Komplizenschaft Pazifismus und Overkill-Rüstung verbindet. Die Bemühungen um Weltfrieden beruhigen die Uneinsichtigen mit der falschen Hoffnung, der Untergang sei noch abzuwenden. Die „aggressive Eigendynamik von Rüstungskomplexen“ läuft währenddessen auf die globale Erlösung von Leid und Elend hinaus. Die „Friedensforschung muß mit allen Mitteln daran gehindert werden, diesen Motor etwa mit den illusorischen Konzepten des passiven Widerstandes oder der gewaltfreien Aktion…, mit…Abrüstungsmodellen abzuschalten oder auch nur seine ständig akzelerierende Tourenzahl zu senken.“ (S. 61f.) Denn der große Knall muß so groß sein, daß wirklich Schluß ist, und nicht wieder jemand in neuem Elend übrig bleibt – wie nach den „Vorbereitungskriegen“. Offen bleibt, ob der Holocaust dem „anthropofugalen Denken“ ein weiterer Beweis für die Untierhaftigkeit des Menschen ist, oder, wie „noch das kleinste Geplänkel, das unbedeutendste Gemetzel als Schritt in die richtige Richtung, als Vorbereitung für das globale Harmageddon“ (S. 60) zählt.

Ulrich Horstmann promovierte 1974 über Edgar Allen Poe und lehrt seit 1991 englische und amerikanische Literatur an der Uni Gießen – bei einem solchen Oeuvre überraschend nicht nur für diejenigen, die nicht mehr daran glauben können, in von Professoren verfassten Büchern seien bemerkenswerte Gedanken zu finden. Neben „Das Untier“ hat er zahlreiche Essays, Romane, Aphorismen- und Gedichtbände und Theaterstücke veröffentlicht. Außerdem ist er ein verdienter Übersetzer und Herausgeber u.a. von Jack London, Oscar Wilde und Philipp Mainländers „Philosophie der Erlösung“, worin die Sinnlosigkeit des Lebens dargelegt wird. Mainländer quatschte nicht nur rum, sondern erhängte sich, nachdem er sein zweibändiges Werk vollendet hatte. Auch Horstmann, „als Bruder Leichtfuß der Apokalypse angeschwärzt“, hätte wohl mancher gerne am Strick gesehen oder zumindest gefragt, warum er mit der Globalisierung des Todes nicht bei sich selbst anfängt.

Da bleibt es aber vorerst bei Trockenübungen: Horstmanns pseudonymes alter ego Klaus Steintal ist ein notorischer Selbstmörder und auf seiner Homepage www.untier.de hat Horstmann, „erklärter Gegner einer hoffnungslos optimistischen Weltsicht“ einen Nachruf hinterlassen: „Ulrich Horstmann (1949-2004) war ein stiller Störenfried des deutschen Literaturbetriebs. ‚Das Untier‘, für das er den Kleist-Preis erhielt, ist seine nachdrücklichste Visitenkarte.“ Den Schriftsteller Horstmann hat er Mitte letzten Jahres über die Klinge springen lassen, um fortan seiner eigenen Rezeptionsgeschichte zuzusehen. Mit Frank Müller hat er einen „einzig autorisierten Horstmann-Experten“ ernannt, der das literarische Dienstzeitende verkünden durfte. Ganz gleichgültig kann Horstmann der Aussicht, wie Ludwig Klages („Der Geist als Widersacher der Seele“, 1929) als philosophische persona non grata totgeschwiegen zu werden, also nicht gegenüberstehen. Kein Wunder, ist doch Schopenhauer sein unverkennbares Vorbild. In den Vorreden zu den ersten Auflagen von „Die Welt als Wille und Vorstellung“ jammert der Egomane darüber, noch immer nicht Anlaß für die Erfindung der Spiegel-Charts zu sein. In der zur 3.Auflage muß er einräumen, nun doch noch zu erleben, wie sein Werk zu wirken beginnt.

Horstmann schreibt nichts mehr und will auch nicht mehr über sein Werk sprechen. Für die Pflege seiner Eitelkeit als „literarischer Schausteller“ und der Rezeptionsgeschichte ist jetzt sein persönlicher Exeget Müller zuständig.

Ein Jammer, denn zum einen zeichnet(e) sich Horstmann durch eine ehrfurchterweckende Sprachvirtuosität und einschüchternde Belesenheit aus. Dabei handelt es sich beim derart veredelten Geraune Horstmanns um Botschaften aus einer Welt voll Melancholie, Geschwurbel und Schnaps (in „Hirnschlag“ von 1984 fragt Horstmann so rhetorisch wie berechtigt: „Was charakterisierte den desolaten Zustand der Poesie schlagender als der unaufhaltsame Niedergang einer so lebensprallen Gattung wie der des Saufliedes.“).

Zum anderen brachte er Leben in die philosophische Bude. Den Humanismus entlarvt „Das Untier“ en passant: Leibniz macht sich, mit den Trümmerfeldern und Leichenbergen des Dreißigjährigen Krieges vor dem Fenster, zur „Rechtfertigung der existenten Welt als der besten aller möglichen auf – und leistet damit eine ungeheuerliche kulturelle Verdrängungsarbeit, die man, hätte sie nicht die grandiosen Proportionen der Leibnizschen Monadologie, in den Bereich pathologischen Wirklichkeitsverlusts abzuschieben geneigt wäre.“ (S. 34) Noch im Atomzeitalter schreckt die Philosophie „mit wenigen Ausnahmen vor der Beschäftigung mit dem Unheil, mit dem homo extinctor, wie vor der Berührung eines Aussätzigen zurück und beugt sich in kindlicher Konzentration über die Baukästen der Wissenschaftstheorie, Hermeneutik, Ideologie- und Ökologiekritik.“ (S. 60)

Verständlicherweise steht die verdrängte Beschäftigung mit dem Untierhaften des Menschen, die Horstmann zu leisten meint, noch in jeder Hinsicht auf wackligen Beinen. Es ist arg zirkelhaft, aus der Gleichzeitigkeit von Grausamkeit und Leidensfähigkeit des Menschen abzuleiten, der Mensch habe den evolutionären Auftrag, die Mittel zur Auslöschung allen leidensfähigen Lebens zu entwickeln und einzusetzen. Horstmanns Belege dafür sind der Mängelcharakter des Menschen, der dessen kriegerischen Erfindungsreichtum bedingt, und die blutige Geschichte dieses Erfindungsreichtums (S. 72f.). Passenderweise bringt er sogleich Nietzsches Zarathustra als martialischen Gewährsmann ins Spiel (übrigens trägt Horstmann den klassischen Willem-Zwo-Schnauzer und fühlt sich auch sonst hundert Jahre zu spät geboren). Ziel muß sein, Qual und Leid auszurotten, also alles, was quälen und leiden kann, also alles organische Leben (hier muß der Mensch mit Flora und Fauna solidarisch sein), da keine andere Erlösung von Qual und Leid denkbar ist. Da jedoch kommt Zarathustra nicht mehr zu Wort, der sich in „Von den Predigern des Todes“ gegen die Vereinnahmung durch Schopenhauer(ianer) versichert: „Ihnen begegnet ein Kranker oder ein Greis oder ein Leichnam; und gleich sagen sie: ‚das Leben ist widerlegt!'“

Abgesehen von solchen inhaltlichen Schwächen ist Horstmann sich insgeheim bewußt, seine Abhandlung darüber, warum es für alles Seiende das beste wäre, nicht mehr zu sein, habe kaum eine Chance auf Realisierung. In der für sich reklamierten Zweck- und Tatenfreiheit, im Schutz der satirischen Uneindeutigkeit, ob er „Das Untier“ und alle folgenden, ähnlichen Äußerungen wirklich ernstgemeint hat, kann er – schopenhauersch von allen Folgen des Denkens befreit – das Ende der Erde als Insel des Lebens fordern. „Der letzte radikale Schritt“, den Voltaire und Schopenhauer unterlassen haben, indem jener sich mit spöttischer Ironie der Betroffenheit vom erbärmlichen Schicksal des Menschen entzog, dieser das „Ich hätte niemals sein dürfen“ lediglich auf das Individuum bezieht und es im Gegensatz zu Mainländer bei der Theorie der Suizidnot belässt – einen solchen letzten Schritt kann Horstmann gar nicht mehr machen, so gigantomanisch ist das, was er sich ausgedacht hat. Einen solchen hätte er eh nie im Sinn gehabt, sonst nämlich wäre er nicht bei Gattin, Schnaps und Schreibmaschine geblieben, sondern Kapitän eines Atom-U-Boots geworden. Es bleibt beim harmlosen Gedankenexperiment mit dem Martialischen, der kleine nekrophile Hunger wird mit dem fiktiven Selbstmörder Steintal gestillt.

Mit den Jahren hat Horstmann seine polternde Entschlossenheit zur Massenselbstvernichtung als „sanften Transport in die Vernichtung“, die „aller Not ein Ende bereitet“ (S. 109), aufgegeben, bis es hieß, er habe in „Das Untier“ lediglich über eine menschenlose Welt nachdenken wollen, solange das noch möglich ist, denn nachher denkt ja nichts mehr.

Man sagt ihm Weltekel nach, dabei meint Horstmann es ja gut mit der Welt:

„Trost spendet jetzt die Nähe des Unheils, die Gewißheit, daß die Äonen des Ausharrens, der Vorbereitung, der rastlosen Vervollkommnung sich neigen und der Lohn ansteht: das Ausleiden, das Ausgelitten-haben.“ (S. 8)

Dies im Angesicht des drohenden atomaren Overkills zu schreiben, ist kein Ausdruck dumpfen, willkürlichen Menschenhasses. Das entspringt der gleichen Gemütsbewegung, die den für die Welt ebenfalls viel zu feinsinnigen Nietzsche zu seinen martialischen Beschwörungen des Übermenschen getrieben hat: Das Mitleid mit der geschundenen Kreatur, die stets auch unbelehrbarer Übeltäter ist, und die Frage, wie beide zu erlösen wären.

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