Stromausfall (Teil 1)

Der erste Teil des „Stromausfalls“ als Fundament der Fortsetzung im Lichtwolf Nr. 19, April-Juni 2006, S. 25f.

von dr faustus, 08.07.2004, 22:09 Uhr (Dunkles Zeitalter)

„Der Morgen stellt im Anschluß an die Nacht gewissermaßen ein Ende der Dunkelphase mit Beginn der Lichtphase dar.“(*)

[1]

Plötzlich war der Strom weg. Das Licht war aus. Der Fernseher tot. Dunkelheit breitete sich aus. Und Stille. Vor allem Stille. Das war das Unheimlichste.

K. saß stumm in der lautlosen Dunkelheit, die ihn vor dem – jetzt taubstumm und blind im Raum stehenden nutzlosen – Fernseher sitzend überrascht hatte. Er wartete auf die schnelle Wiederkehr der Elektrizität; doch vergebens. Es blieb still.

Wie lange war der Strom nun schon weg? Eine Minute? Zehn Minuten? Eine Stunde? K. schaute erneut auf seine Funkuhr, doch die sagte nur blinkend „00:00:00“.

[2]

Wenn K. zumindest Kerzen im Haus gehabt hätte, dann würde er die Dunkelheit bekämpfen können. Aber wer kauft heute noch Kerzen? Nur noch die angeblich glücklich Frischverliebten und ein paar hoffnungsvolle Romantiker. K. war nicht frisch verliebt. Auch nicht angeblich glücklich. K. hatte niemanden zum Lieben, da kam keine Romantik auf. Also: Kein Kerzenlicht sondern hoffnungslose Finsternis.

K. versuchte ruhig zu bleiben. „Captain Kirk an Scotty, Schadensbericht?“ – „Nun, der Strom ist weg, wir haben dadurch Fernseher und Radio verloren, außerdem kein Licht, keine Heizung, keine Kochplatten und der Kühlschrank taut ab.“ – „Wie lange brauchst du, Scotty?“ – … – „Scotty???“ – Keine Antwort.

K. nahm das Telefon in die Hand, um den Hausmeister anzurufen. Doch das Telefon schwieg sich aus. Aber das war nichts Neues, denn wen hatte er zuletzt angerufen? Seine Mutter war vor Jahren gestorben, seinen Vater hatte er nie gekannt und sonntags war sein Chef nicht im Büro. Das Telefon ist tot – aber auch „vorher“ hatte es nie gelebt.

[3]

Jetzt dämmerte es K. erst richtig. Der Fernseher war außer Betrieb. Was sollte er jetzt tun? Ohne seine einzige Verbindung zur Außenwelt? (K. hatte nie begriffen, daß er nur über eine Empfangsstation aber nie über einen Sender verfügte.) K. tigerte in seiner kleinen Wohnung auf und ab, fiel dabei so oft hin, dass er einfach auf seinem weichen Teppich liegen blieb. Er war genauso nutzlos wie seine elektrischen Geräte. Ein Staubfänger.

Letztlich ging K. ins Bett – die altbewährte Methode, um zu verschleiern, daß man nichts mit sich anzufangen wußte. Da das Wasser auch nicht mehr funktionierte, begann es im Bad streng zu riechen. Seine Zähne putzte er sich mit dem letzten Schluck Mineralwasser, das im Haus war. Weil seine Funkuhr noch immer schwieg, und weil er seine kleine Sanduhr in der Dunkelheit nicht sehen konnte, dauerte das Zähneputzen eine kleine Ewigkeit – K. wollte sicher gehen, daß er auch wirklich seine drei Minuten einhielt. Danach fiel er in sein Bett. Sein letzter Gedanke bevor er einschlief: Morgen ist alles wieder gut.

[4]

Nun, am nächsten Morgen war nichts gut. Dunkelheit und Stille herrschten noch immer über K.’s Leben. Langsam tastete er sich in die Küche. Die Milch im Kühlschrank war sauer – kein Müsli für heute. Ein harter Beginn für einen Tag. K. hätte dringend einen Kaffee gebraucht, doch die Kaffeemaschine war nicht zu gebrauchen.

K. wollte die Jalousien hochfahren – aber dies funktionierte nur über einen kleinen Schalter. Ein Knopfdruck und die Jalousien öffnen und schließen automatisch. Man konnte das Teil sogar so programmieren, daß es diese um 07.00 Uhr hoch- und um 18.00 Uhr herunterfahren läßt. Das heißt, wenn der Strom läuft. Moderne Technik. Kein Blick nach draußen. K. hatte die Jalousien heruntergelassen, kurz bevor alles ausfiel. Man könnte fast sagen: Nachdem K. seine Jalousien heruntergelassen hatte, war der Strom ausgefallen. Merkwürdig.

So aß K. Im Dunklen, was genießbar und essbar war. Viel war es nicht.

[5]

Tief in seinem Inneren wusste K., was er und daß er etwas tun mußte. Er schrieb sich „im Geiste“ eine Liste: Zunächst Hilfe suchen, oder den Hausmeister finden; danach Einkaufen gehen (Wasser, Brot, Kerzen).

K. zog sich an – im Dunklen: die einzig eindrucksvolle Tat des Tages -, denn er wollte hinaus, seine Liste abarbeiten. Aber…

Haben Sie auch so eine elektrisch gesicherte Tür? Die einen vor harten Zeiten schützt? K. hatte so eine. Und die war gesichert. Zugesperrt. Ohne Strom – kein Ausweg. Er hatte extra dafür bezahlt, daß sie im Falle eines Stromausfalls verriegelt bleibt. Einer der häufigsten Einbruchtricks der letzten Jahre: Erst den Strom kappen und dann die Bude ausräumen. Aber nicht mit K. – er hatte mitgedacht. Pech für ihn, die Tür blieb zu. K. stand fertig angezogen vor seiner Tür in seiner dunklen Wohnung und wußte mit sich nichts anzufangen. An Punkt 1 seiner Liste war er gescheitert.

Er blieb einfach vor der verschlossenen Tür stehen. Vielleicht erschien dies sinnlos, aber eine bessere Aufgabe fiel ihm nicht ein. Und arbeiten gehen konnte er nicht: einerseits, weil er seine Wohnung nicht verlassen konnte, andererseits, weil er (ausgerechnet in dieser Woche) Urlaub hatte.

[6]

Keine Arbeit. Kein Essen. Kein Wasser. Kein Strom. Kein Tageslicht. Kein Telefon und kein Fernsehen. So etwas ist K. noch nie passiert, noch nie in seinem ganzen Leben. Konnte es noch schlimmer werden? Nein, dachte K. und wartete auf Besserung.

Es kam schlimmer.

Denn K. bekam Hunger. Großen Hunger. Und Durst. Nur hatte er kaum noch zu trinken und Essen.

Die saure Milch hatte er weggegossen, darüber ärgerte er sich bereits jetzt. Die Frage, die K. quälte, während er seine Inventur machte, war: Wie lange noch? Wann kamen Strom und Wasser wieder? Wann konnte er wieder hinaus?

Er rationierte sein Essen. Zum Mittag gab es ein einzelnes teigiges Brötchen mit Käse. Mehr nicht. Und eine Tasse Wasser. Sein Magen knurrte. Und er wußte genau, daß um die Ecke ein riesiges Einkaufszentrum steht, wo es allein zehn Regalmeter mit Tiefkühlpizzen in allen Variationen gibt.

K. bekam die ersten Tagträume und sehr bald würden die Alpträume folgen. Noch sah er sich beim besten Griechen der Stadt den Magen voll schlagen – doch in den folgenden Stunden sah er sich verhungern und verdursten. Kein schöner Anblick – zum Glück war es dunkel.

[7]

Die Zeit verging für K. sehr langsam. Seine Funkuhr streikte noch immer und Tageslicht nahm er nicht wahr. Er verlor jegliches Zeitgefühl. Innerhalb von drei Stunden aß er Mittag, Vesper und Abendbrot.

Die Selbstdisziplinierung scheiterte am fehlenden Maßstab.

Letztlich ging K. ins Bett und dämmerte vor sich hin.

(*)Mozart ist selbst gestorben. 555 Stilblüten aus Schüleraufsätzen, hg. v. Dieter Kroppach, Frankfurt/ Main 2001, S. 30.

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