Klassik Radio

…ist in der Moderne angekommen.

von Timotheus Schneidegger, 03.02.2004, 00:32 Uhr (Dunkles Zeitalter)

Habe ich mich also doch nicht verhört: Täglich punkt Mitternacht schmettert Klassik Radio eine frische Vertonung der bundesrepublikanischen Nationalhymne in den Äther.

Das war früher, ich erinnere mich genau, anders.

So weit, so löblich.

Andere Andersartigkeiten fallen jedoch mit nach unten gerunzelter Stirn auf: In der Klassik „Lounge“ (vermutlich wird das „Klassik“ gar mit einem oder zwei c geschrieben) läuft u.a. Massive Attack, „Unfinished Sympathy“.

Erschreckend, ein Lied der eigenen Jugend auf Klassik Radio zu hören. Dieser Zeitlichkeitsschock blieb den jüngeren Zeitgenossen von Mozart, Bach, Händel und Co. erspart.

So recht und billig es nur sein kann, solcherlei häufiger zur Reinigung von Lautsprechern und Ohren des Volkes auszusenden – wundern tut man sich wohl, was da bei dem Sender im Hintergrund vor sich gegangen sein muß nach der Übernahme durch eine dubiose „European Media Group“, die sich jetzt alle halbe Stunde im Programm erwähnt wissen will.

Früher liefen ganze Sinfonien tags wie nachts erhaben vor sich hin, ohne daß einer der meinethalben auch sympathischen Moderatoren dazwischenplapperte. Verkehrsmeldungen platzen nach wie vor nicht in Smetanas „Moldau“ hinein. Aber dafür wird sie, ganz wie das Flußbett ihres mundanen Vorkommens, vorne und hinten mit akustischem Kapitalismuszement festgezurrt.

Das Zuhören wird mehr und mehr zu einem unruhigen Schlummer. Kaum hat man die 20. Wiederholung der Ankündigung eines topaktuellen von Kabel 1 abends zu verstrahlenden Filmemacherfilms unter Schmerzensschreien überstanden, sich für fünf Minuten in die einzige dem Menschen mögliche Form der emotionalen Transzendenz – genau, eine feine Mucke – hineingekuschelt, schon wird einem die Kenntnis darüber aufgedrängt, daß der Flug Frankfurt-New York eine halbe Stunde Verspätung hat, was aber nichts macht, weil Börsenbunny Markus Koch schon da ist und erzählt, was er gerade auf der Wall Street aufgeschnappt hat.

Auf welche „target audience group“ EMG sein Klassik Radio nun eigentlich abrichten will scheint dem Marketing- oder Programmdirektor, falls es dort sowas gibt, noch unklar zu sein. Wäre der Laden in einen Entschleunigungsdienst für den Jet Set mutiert, wüsste man wenigstens woran man ist. Aber die erwähnte „Lounge“ von „DJ Jondal“ zur besten Partytime und das ständig eingestreute ach so moderne Geblubber von elektronisch aufgekochten Klassikern will wohl eher diejenigen ködern, die ihre Managerhetze noch vor sich haben, bzw. den Traum davon noch nicht aufgegeben.

Das Gästebuch zeugt davon, wie die neu angelockte Klientel dem einstigen geistigen Führungsanspruch des Senders Hohn spricht, nun da er offenbar Markterfordernissen weichen musste. An gleichem Ort zeigt sich der scheinbar blitzartig den Sprachschatz einschränkende Entzug vom gegen Gottes Schöpfung milde stimmenden Gedudel, dem die durch die Trendy-fizierung verprellten Ur-Hörer auf die gute alte Zeit Obituarien zeternd Luft verschaffen. Einige wohl schon derart in Umnachtung versunken, daß der TV-Werbespot (noch so ein novum!) mit nacktem Herrengesäß Anlaß zur öffentlichen Verlautbarung der Kündigung von Kabelanschluß und Hörertreue wird.

Der Verweis nach klassikradio.de sei unter Vorbehalt gegeben. Die Homepage funktioniert fast nie. Konzerne und Holdings geben immer ein noch traurigeres Bild als so schon ab, wenn sie es noch nicht einmal hinkriegen, ein von ihnen überwuchertes Geschäftsmodell vernünftig ins Weltnetz zu stellen.

Für einen Blick ins dortige Gästebuch langt es mitunter, und mit viel Glück kann man sich zu Beginn der Geisterstunde in den Streaming Broadcast einklinken, um dem eigenen Auge zu einer Interpretation des Fallersleben-Klassikers die Verlemurung von, man muß sie zumindest formal so nennen, Klassikhörern anzutun.

Ansonsten auf Klassik Radio: „Modern Music“ für’s Ohr, rund um die Uhr sowas wie „Space Night“ ohne Weltraum, „ein rechtes echtes Wahrzeichen der deutschen Seele, die zugleich jung und veraltet, übermürbe und überreich noch an Zukunft ist. Diese Art Musik drückt am besten aus, was ich von den Deutschen halte: Sie sind von vorgestern und von übermorgen – sie haben noch kein Heute.“ (Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse)

Und was sage ich: Die „Moldau“ kommt. Im „Chill Out“-Remix. Wenn das „heute“ sein soll, haben sich die Zeiten oder die Deutschen seit Nietzsche gewandelt. Man überzeuge sich selbst.

Schreiben Sie einen Kommentar