Der unbewältigte Heidegger

-Wie man an Vorbildern scheitern kann-
[aus dem Nachlaß, 29. August 2003; der erwähnte Beitrag „Die unbewältigte Moderne“ aus der Badischen Zeitung vom 9. August 2003 ist hier nachzulesen]

von Rawulf von Sar auf Etz, 15.01.2004, 10:55 Uhr (Dunkles Zeitalter)

Tilo Wesche schreibt unter dem Titel „Die unbewältigte Moderne“ eine Heidegger-Apologie, versteckt in einem Beitrag zur Reihe „Adorno100“, die eigentlich eine Würdigung Adornos anläßlich seines einhundertsten Geburtstags werden sollte. Doch scheinbar ist ein in Freiburg beschäftigter Fachphilosoph dazu verpflichtet, jeden Philosophen in relativierender Weise mit der Ikone Heidegger zu vergleichen oder vielmehr jede Würdigung eines anderen in eine Herabsetzung zu verwandeln, die sich dann als Huldigung dieses Ewigen und Einzigen darstellt: „…an die philosophische Darstellungskraft des Geniestreichs ‚Sein und Zeit‘ reicht keine der Schriften Adornos heran.

Aufschlußreich für den relativierenden Grundton ist schon der Schluß der Unterzeile, denn für Wesche trennt „auch der Nationalsozialismus“ die Philosophen Adorno und Heidegger. Das Problem ist das auch, denn was trennt fundamentaler, als die Frage nach der Haltung zum Nationalsozialismus? Mit diesem auch wischt Wesche jede Nachfrage zu Heideggers Überzeugungen und Handlungen an diesem zentralen Punkt beiseite. Der Nationalsozialismus soll ausgeklammert werden, um die verborgene apologetische Absicht nicht zu gefährden. Nur mit diesem Handstreich kann Adorno als das Fliegengewicht, als der leichtere Teil in dem herbeigeredeten „Verhältnis“ zu seinem „Kontrahenten“ gezeigt werden.

Um den Einzigen gewichtiger und tiefer erscheinen zu lassen, wird nach einer braven, inhaltsleeren Rekapitulation der Leistungen Adornos, die geradezu aus dem Handbuch abgeschrieben sein könnte, in einer Art Konklusion der Anspruch Adornos auf den Ehrentitel Philosoph bestritten.

Adornos „Philosophie gelangt an ihr eigenes Ziel erst dort, wo sie in konkrete Analysen und wissenschaftliche Kritik einer Wirklichkeit übergeht, die ‚falsch‘ bzw. ’schlecht‘ ist, d.h. nicht sein soll.“ Man möchte „auch der Nationalsozialismus“ einwerfen.

Erstaunlich wie Wesche an diesen Satz anschließt: „Doch keineswegs gelingt es Adorno immer, den Bogen von Philosophie zur Zeitkritik zu schließen.“ Dieser zweite Satz gibt Rätsel auf, denn in dem ersten Satz lesen wir, daß für Adorno das Ziel der Philosophie Zeitkritik ist. Nun sagt Wesche, daß es Adorno nicht immer gelingt einen Bogen von der Philosophie zur Zeitkritik zu schlagen. Ist Adorno also gescheitert, verharrte er in einer Philosophie, die sich nicht der Zeitkritik verschreibt? Die erstaunliche Antwort erhalten wir im darauf folgenden Satz: „Im Grunde findet er einen Zugang zur Philosophie nur vermittelt über (im weitesten Sinne) gesellschaftstheoretische Fragen.“ Ich gehe sicherlich nicht fehl, wenn ich Wesche unterstelle, daß er gesellschaftstheoretischen Fragen im weitesten Sinne genau das nennt, was bei ihm vorher Zeitkritik heißt.

Die Frage, ob Philosophie nun Zeitkritik zum Ziel hat oder nicht, muß Wesche gar nicht mehr beantworten. Glücklicherweise müssen wir Dank der Ausschließung vom Anfang nicht mehr darüber nachdenken, ob mit der Zeit in dem Wort Zeitkritik auch die Zeit des Nationalsozialismus gemeint sein könnte. Der ist im weitesten Sinne eine gesellschaftstheoretische Frage und kein Problem der Philosophie?

Schatten wie Leuchtkraft seines [Adornos] Ansatzes zeichnen sich vielleicht deutlicher ab, wenn man ihn im Verhältnis zu dem seines Freiburger Kontrahenten Martin Heidegger betrachtet.“ Endlich sind wir dort angelangt, wo wir schon die ganze Zeit hinwollten, ich für meinen Teil möchte aber das vielleicht betonen. Man beachte, daß es immer die kleinen Planeten sind, die von der großen Sonne Leuchtkraft erhalten oder – so sie sich verbirgt – aus Mangel Schatten leiden. Um vergleichen zu können, muß Wesche nun einen „gemeinsamen Hintergrund“ für Adorno und Heidegger suchen, sozusagen als Basis für die Unterschiede. Er findet „verschiedenste [sic!] Gedankenfiguren“ die beide teilen und zumindest über die Art wie er sie formuliert ließe sich streiten; man kann sie als „Negativitätserfahrungen“ zusammenfassen.

Der wirklich dicke Brocken kommt erst danach: „Doch ist auffällig, dass unter den Negativitätserfahrungen bei Heidegger sich nicht die befindet, welche man als die des 20. Jahrhunderts schlechthin bezeichnen darf.“ Ja, das ist der Punkt, erkannt – wenn auch nicht benannt. Vielleicht drückt sich hier ein besonders feines Schamgefühl für die Grenzen eines ehernen Tabus aus (Das würde zu dem á la Adorno niedlich nachgestellten sich passen, denn Scham und Unbeholfenheit sind in Kombination einfach bezaubernd). Doch diese zarte Blume wird gleich wieder gepflückt, denn Wesche wirft ein Aber ein, welches das Vorgesagte ins rechte Licht rücken soll: „Ginge es allein um das nationalsozialistische Engagement eines berühmten Professors, wäre Heidegger Adorno keine Silbe wert gewesen.“ Das ist sehr richtig und sehr falsch, um es zu verstehen, müssen wir übersetzen:

(1) Professor ist nicht Philosoph. Heidegger ist erstmal Philosoph und zufällig auch noch Professor. Als Professor hat er sich im Nationalsozialismus engagiert, das betrifft aber nicht den Philosophen Heidegger, denn Philosophie ist nicht engagiert, weil sie sich nicht für gesellschaftstheoretische Fragen interessiert, die sind bloße Zeitkritik. Wenn Adorno dem Heidegger Zeilen widmete, dann dem reinen Philosophen.

Ich behaupte, daß diese Übersetzung mit den Intentionen Tilo Wesches gut übereinstimmt. Darum ist Wesches Satz grundfalsch.

Es gibt aber eine Übersetzung, die zeigt, wie richtig der obige Satz ist; diese hätte Wesche aber selbst nie unterzeichnet:

(2) Adorno hat in Heidegger nicht den weltlichen Professor handeln sehen, sondern den Philosophen. Was Heidegger tat, tat er nicht, obwohl er eine hübsche Philosophie hatte, sondern weil seine Überzeugungen und sein Handeln Ausfluß und Ausdruck dieser Philosophie waren. Adorno hat sich nicht gegen Heidegger als engagierten Professor gewehrt, sondern sich mit Heideggers Philosophie auseinandergesetzt. Wäre Heidegger ein Mitläufer gewesen, der nur als Professor tönende Reden gehalten hätte, dann wäre er Adorno keine Silbe wert gewesen.

Diese zweite Übersetzung zeigt, daß die Unterstellung, Adorno liefere nackte, unphilosophische Zeitkritik, nicht trifft. Denn es ist die ewige Philosophie Heideggers, die Adorno mit dem Hinweis auf konkrete Analysen und wissenschaftliche Kritik der Wirklichkeit angreift.

Meiner Analyse könnte Böswilligkeit und absichtliches Mißverstehen unterstellt werden, doch wird sich dieser Eindruck verflüchtigen, wenn der Text im weiteren Zusammenhang untersucht wird:

Ginge es allein um das nationalsozialistische Engagement eines berühmten Professors, wäre Heidegger Adorno keine Silbe wert gewesen. Der Funken Wahrheit, den Adornos polemische Entgleisungen enthalten, liegt in…“ HALT! Ab dieser Zeile wird der Artikel ein regelrechter Skandal. Mühsam haben wir soeben versucht auszugraben, was Wesche gemeint haben könnte, wenn er sagt, daß bei Adornos Betrachtung Heideggers „nationalsozialistisches Engagement“ eher von marginaler Bedeutung war. Nun wird uns zugemutet, bei Adorno „polemische Entgleisungen“ entdecken zu sollen, ohne Beleg, ohne Argument, als Voraussetzung sozusagen. Es ist nur so dahingesagt, um den Angesprochenen zu diskreditieren und eine gewisse Abneigung zu zeigen. Schluckbar soll die bittere Pille dadurch werden, daß sie in einer Karamelhülle aus Zustimmung dargeboten wird:

Der Funken Wahrheit, den Adornos polemische Entgleisungen enthalten, liegt in seiner Rede von der ‚Ontologisierung des Ontischen‘ oder dem ‚Primat des Begriffs über die Sache‘.

Doch der Funken macht noch kein Feuer.

Was der Frankfurter [Adorno] beanstandet, ist der Zugriff auf Wirklichkeit unter dem Vorrang philosophischer Fachfragen; in diesen erschöpfe sich aber Wirklichkeit nicht.“ Das wissen wir schon und verknüpft mit der Prämisse, daß Philosophie nunmal ein breiter Abgrund von „konkreter Analyse und wissenschaftlicher Kritik einer [!] Wirklichkeit“ und „(im weitesten Sinne) gesellschaftstheoretische[n] Fragen“ trennt, wird diese Beanstandung durch Adorno zu einem Mäkeln relativiert. Mäkeln aber ist nicht stichhaltig, sondern Polemik.

Allein deshalb hatte Heidegger dem Glauben verfallen können, die Schlachten der Realgeschichte seien auf dem Feld der Philosophie zu entscheiden.

Die leichte Verwirrung, die diese Zeilen auslösen können wird sogleich wieder aufgehoben:

Möglicherweise war diese Überschätzung der Philosophie der eigentliche Beweggrund für seinen so genannten politischen Irrtum.

Wesches Konklusion lautet also, daß Adorno und Heidegger die Philosophie mit „Zeitdiagnose“ verknüpft sahen, Adorno nur die Philosophie in der Zeitkritik und Heidegger die Zeitdiagnose in der Philosophie auflösen wollte. Als Philosoph müßte man natürlich eher mit dem zweiten Projekt liebäugeln, das gebietet schon der Selbsterhaltungstrieb.

Was war nun Heideggers „politischer Irrtum“ und warum ist es ein „so genannter“ und kein tatsächlicher? War es Heideggers politischer Irrtum Nationalsozialist zu sein? Soll das heißen, daß eine Überschätzung der Philosophie zum Nationalsozialismus führt? Diese wichtigen Fragen wurden am Anfang ausgeschlossen und damit in einer bestimmten Weise beantwortet.

Dieser Beitrag von Tilo Wesche in der Badischen Zeitung ist bezeichnend für die gegenwärtige Verfassung der Philosophie in Freiburg. Er sollte eine Würdigung des Philosophen Theodor W. Adorno aus der Hand eines akademischen Philosophen werden: So stellen wir uns dem Publikum dar.

Dieser Beitrag war weder hilfreich, noch aufklärend, sondern bloß bezeichnend – und so wird er auch wahrgenommen.

In seiner Peinlichkeit ist er ein Aufruf nicht zu vergessen, daß es eine Wahrheit gibt. Diese Wahrheit lautet, daß der Nationalsozialismus die grausamste Herrschaft des Terrors war, die Menschen zu denken möglich ist und alles was sich als menschliches Denken präsentieren will, sich daran messen lassen muß, wieweit es geeignet ist, diesem Schrecken entgegenzutreten. Was darüber hinausgeht, ist eine nette Zugabe; was dahinter zurückbleibt, kann nicht genügen; was dem entgegensteht, ist Irrsinn. Das ist die Kernaussage der Philosophie Adornos. Hätte man auf sie hingewiesen, wäre es unmöglich gewesen, ihn mit Heidegger vergleichen und diesen höher stellen zu wollen.

Relativieren hat keinen Sinn und alles verstehen zu können ist kein Wert. Es kommt am Ende darauf an, das Richtige zu tun. Das hat Heidegger versäumt. Wenn es an seinem Verständnis von Philosophie gelegen hat, dann muß es abgelehnt werden – sichtbar.

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