Das Urteil

von dr faustus, 01.03.2003, 12:54 Uhr (Dunkles Zeitalter)

K. wurde vor die Wahl gestellt – nach seiner Verurteilung. Warum er verurteilt wurde, hatte er nie erfahren; wenn er es wüßte, hätte es nichts verändert. Das Urteil lautete:

„Dem Verurteilten K. werden aufgrund seiner Verbrechen entweder beide Arme oder beide Beine abgenommen. K. muß zum Ausdruck bringen, welche Strafe er bevorzuge, die endgültige Entscheidung obliegt dem Richter. Die Strafe ist unmittelbar nach der Entscheidung anzutreten.“

K. hatte eine halbe Stunde Zeit bekommen sich zu überlegen, ob er lieber ohne Beine oder ohne Arme leben wollte. Dabei mußte er jedoch bedenken, daß der Richter die Wahl hatte, ihm seinen Wunsch zu gewähren oder eben gerade abzulehnen, um das Gegenteil zu bewirken. K. wußte, daß es keinen Ausweg gab. Er entschied sich letztendlich dafür, seine Beine zu opfern.

Der Richter nahm K.’s Wunsch entgegen und befahl, daß er bis zur Strafverkündung in der Zelle warten müsse. K. wurde zurück in die Zelle geführt, die man mit dem Wort „trostlos“ exakt beschreiben kann. Er hoffte auf eine baldige Verkündung und Vollstreckung. Daß es keine Hoffnung auf Gnade gibt, hatte der Richter schon klar zum Ausdruck gebracht. Nach zehn Minuten Warten, die K. mit sturen hin- und herlaufen verbracht hatte, beschloß er sich auf die harte Liege zu setzen.

Er schaute auf seine Beine und stellte sich vor, wie er ohne sie leben müßte. Kein Laufen, kein Wandern, kein Schwimmen, kein Tanzen, kein Springen, keine Bewegung mehr; er würde sein restliches Leben ans Bett gefesselt, ein Krüppel sein.

Er schaute auf seine Arme, seine Hände, seine Finger. K. ließ seine Finger tanzen. Wenn er keine Arme mehr hätte, dann könnte er zwar laufen, tanzen, springen und sich räumlich bewegen – doch warum sollte er noch irgendwohin laufen, wenn er doch weder hier noch dort etwas machen könnte. Essen? Ankleiden? Schreiben? In einem Buch blättern?

Wie wird der Richter entscheiden? Wird K. seine Arme oder Beine verlieren?

Er hörte Schritte, sein Herz fing an klopfen, ihm wurde schwarz vor Augen. Sein Puls raste. Stimmen waren zu hören, eine andere wurde Tür geöffnet, geschlossen und die Stiefelschritte entfernten sich.

K. mußte sich übergeben. Röchelnd lag er da. Fühlte seine Arme und Beine und spürte sie doch nicht. Er verlor das Bewußtsein.

Stunden später erwachte K. – geweckt von schweren Stiefelschritten im Gang. Benommen verfolgte er das sich nähernde Geräusch. Ein kleines Fenster wurde in der Tür geöffnet und plötzlich stand ein Tablett mit Essen auf dem kleinen Absatz. Neben dem Tablett lag eine Nachricht:

„Die endgültige Verkündung der Strafe wird auf unbestimmte Zeit verschoben. Erfreuen Sie sich Ihrer Arme und Beine.“

K. laß die Nachricht noch ein paar mal durch, dann warf er sie weg. Das Essen schmeckte – erstaunlicherweise – gut, genießen konnte er es aber nicht.

Wieder und wieder spielte er in Gedanken durch, wie er ohne Beine oder ohne Arme leben müßte. Manchmal hatte er sich schon damit abgefunden, auf seine Beine zu verzichten und dann kam ihm seine „Wahl“ richtig vor. Doch dann war es ihm als würde der Richter dies ahnen und ihm deshalb seine Arme amputieren. So kam er zu dem Schluß, daß seine „Wahl“ doch falsch war.

In seiner Gedankenwelt lebte er für zehn Minuten ohne Beine, danach zehn Minuten ohne Arme. Irgendwann, während er auf sein Urteil wartete, verließ er die reale Welt und lebte in seiner inneren Welt ohne Arme und ohne Beine.

Die Wärter hatten ihn schon längst auf den Holzbock gelegt, ihn gefesselt und einen Knebel in den Mund gesteckt, als K. wieder erwachte. Vor ihm stand der Richter und verkündete ihm:

„K., Sie sind für schuldig befunden worden – Ihre Bestrafung wird jetzt vorgenommen. Wir nehmen Ihnen jetzt beide…“

Doch K. war erneut ohnmächtig geworden. Und ohne sein Urteil zu erfahren, starb er; sein Körper wurde – vollständig – begraben.

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