Frühvergreisung

von Rawulf von Sar auf Etz, 23.07.2002, 12:57 Uhr (Dunkles Zeitalter)

Im Alter wird man bescheiden. Der Junge will da anfangen, wo die anderen aufgehört haben. Die Fackel ein Stück weitertragen. Etwas ganz Neues machen, den Nordpol als Erster erreichen, eine ferne Galaxie entdecken.

Der Alte sieht den Jungen und erkennt seine eigene Vergangenheit. Er weiß, wie kurz die Strecke ist, die er selbst zurücklegen konnte. Da erteilt er den Rat, am Anfang zu beginnen und sich der kleinen Schritte zu freuen. Er wird nicht gehört. Das Alter ist der Kompromiß, die Jugend ist radikal.

Wie aber wird eine Jugend, die das durchschaut hat? Eine Jugend nach der Jugend. Sie hat ihre prägnantesten Kennzeichen verloren, die Hoffnung auf die Zukunft und die Illusion ihrer eigenen Kraft zur Veränderung. Sie ist in den Kompromiß hineingeboren, sie ist alt.

Sie erkennt die Gesetze der Alten an und nimmt sie als gegeben. Es gilt nicht, stark und auffrichtig – das heißt widerständig – zu werden, sondern geschickt. Sie wollen Meister sein, nicht Erinder. Denn der Meister beherrscht das Hergebrachte vollkommen. Der Erfinder ist der ewige Dillettant, er gelangt durch Versuche und Mißerfolge zu neuen Lösungen.

Das Beharren auf einer eigenen Lösung schließt notwendig zumindest die Möglichkeit des Scheiterns ein. Darum will die Jugend nach der Jugend nicht denken und entwerfen, sondern lernen, wie man’s macht. Sie will sich nicht bilden, sondern ausgebildet werden.

Wer nichts ändern kann, verschwendet sich nur am Versuch. Drum gilt es, hinzupassen oder sich passend zu machen. Die Jugend will attraktiv sein, sie macht sich hübsch für die Bewerbung, weil die anderen, die schon da sind, wo man hin will, entscheiden, wer dabeisein darf.

Warum aber hat die Jugend sich durchschaut, wer gab ihr diese Weisheit? Aus der Erfahrung können sie es nicht genommen haben. Da treffen wir den Kern der neuen Selbstbetrachtung: Sie ist ein geerbter Glaube. Alt wie der Mensch selbst ist die Klage über die Jungen, die nicht hören auf die Worte der Weisen, deren Weisheit sich mit den Jahren mehrte. Doch endlich hört die Jungend auf das Alten – und glaubt.

Wer etwas über ein Ding weiß, erhebt sich über das Ding, er überwindet es indem er es einteilt, umfaßt und bestimmt, so wird es ungefährlich, ohne Überraschung und vorhersagbar. Wer etwas über sich selbst weiß, erhebt sich über sich selbst. Er überwindet sich selbst und muß sich nicht mehr selbst erfahren.

Unsere Generation ist meisterlich effizient. Keine Vergeudung an unnützen Projekten. Keine Verschwendung knapper Lebenszeit. Darum befolgen wir lieber die Gebrauchsanweisung, anstatt die Hilfen der Ahnen in den Wind zu schlagen. Es läuft ohnehin alles im Kreis, keiner entkommt – also hinein ins Glied.

Fröhlich und endlich gedankenlos marschieren wir auf dem ausgetrampelten, ewigen Pfad, hin auf den unentrinnbaren Abgrund. Das ist das Gesetz. Die Frage nach dem Sinn und dem Ziel ist absurd, denn es gibt keine Alternative zum Gesetz. Die Welt war niemals jung! Jeder Betrachter, sei er uns auch noch so zeitfern, blickt auf eine unüberschaubare Vergangenheit zurück.

Doch wer nie den Widerstand gespürt hat, hat nie seine Kraft entdeckt, schlummert bis zum Ende – ohne ein einziges mal den Kopf erhoben, sich umgeschaut und tatsächlich nicht nur erkannt, sondern auch erfahren zu haben.

Kein ewiger Kreis wird jemals gebrochen, doch es zu wissen, ist nichts dagegen, es versucht zu haben.

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